„Darf ich noch zuschenken, mein lieber Herr Weber?“
„Sehr gerne, verehrte Frau Kourmansky. Danke.“
Ja, die Frau Kourmansky war wirklich eine feine alte Dame.
Derweil Urs bei Kaffee und Kuchen mit seiner Lieblingskundin beisammen saß, fuhren die drei Bushwhackers zunehmend frustriert die kleine Straße am Fuß der Auffahrt zur herrschaftlichen Seniorenresidenz auf und ab. Trotz voll aufgedrehter Klimaanlage war es ihnen heiß unter den Lackiereroveralls und ihren zu Mützen hochgerollten Sturmhauben. Das Pink Champagne und das Adrenalin in ihrem Blut taten ihr übriges.
Wyss war längst überfällig, sein Audi nicht auf dem Besucherparkplatz vor dem Tor zur Auffahrt abgestellt. Diese Auffahrt, das hatten sie sorgfältig überprüft, war der einzige Zugang zum Gelände der Seniorenresidenz; es gab keinen separaten Personaleingang, keine diskrete rückwärtige Zufahrt für Kranken- oder Leichenwagen.
„Schon halb drei. Dave hat gesagt, der Termin ist um halb zwei. Wo bleibt der Kerl?“, maulte JoJo. „Wahrscheinlich war er schon hier und ist längst wieder über alle Berge. Der wird ja wohl kaum eine Stunde zu spät kommen.“
„Nässe dich mal nicht ein!“, knurrte Big Tam undeutlich, eine Hand am Lenkrad des Fords, mit der anderen immer noch ein blutgetränktes Knäuel Papierhandtücher gegen seine Nase und Oberlippe pressend. „Wir sind um allerhöchstens zehn nach halb zwei hier angekommen.“ Da der geborgte Ford Focus kein Navigationsgerät an Bord hatte und das Team weder einen Stadtplan von Bad Homburg besaß noch ein Wort Deutsch sprach, hatte sich die Anfahrt zu der in einem stillen Vorort gelegenen Seniorenresidenz zu einer wahren Odyssee entwickelt. „Entweder der Kurier ist noch da drin, oder er kommt noch. So oder so, wir halten uns an den verdammten Plan. Wir warten, bis er seinen Termin erledigt hat, wir folgen ihm zu seinem Auto und ihr beiden überbringt ihm die Frohe Botschaft mit dem Taser. Dann gebt ihr ihm eine Ladung Pfefferspray in die Fresse oder zieht ihm den Schuhbeutel über den Kopf, damit er nix mehr sieht und ihr die Sturmhauben wieder abnehmen könnt. Ihr könnt hier schließlich nicht mit Sturmhauben durch die Gegend laufen. Damit seht ihr ja aus wie Kriminelle.“
Nachdem das Lachen verklungen war, fuhr Big Tam fort: „Dann packt ihr den Spasti in seinen Wagen und nehmt ihn mit. JoJo, du fährst; Frank, du hältst ihn mit der Kalaschnikow in Schach. Ich folge euch in dem Ford hier. Wir suchen uns in aller Ruhe ein einsames Plätzchen, irgendwo schön abgelegen, wo wir das Geld umladen können. Dann fesseln wir den Kurier, sperren ihn in seinen Kofferraum und hauen ab. Fertig, damit ist der Fisch geputzt. Bevor jemand den Kurier findet und überreißt, was hier abgelaufen ist, sind wir längst in Bangkok.“
Also warteten sie weiter. Zum Zeitvertreib brach JoJo wieder einmal eine Debatte über den künstlerischen Wert von Banksys Oeuvre vom Zaun, ein altes Reizthema, mit dem er Fila-Frank zur Weißglut treiben konnte, wie er wußte.
„Zum tausendsten Mal, JoJo, der Typ ist nichts als ein Schmierfink! Ein genialer Selbstvermarkter von einem Schmierfinken. Der kann ja noch nicht mal richtig sprayen, der braucht ja eine Schablone, um die Wände zu verhunzen. Wetten, daß selbst ich noch besser sprayen kann als der?“
„Weißt du was, Frank? Das glaube ich dir sogar. Aber du tust ihm unrecht, wenn du ihn auf das bloße Sprayen reduzierst. Banksy ist kein klassischer Grafittikünstler, das ist auch nicht sein Anspruch; er ist vielmehr ein begnadeter Satiriker, dessen eigentliche Leinwand, nein: dessen eigentliches Medium, die Medien sind. Er greift relevante soziale Probleme der Gegenwart auf und verdichtet diese visuell auf ihren absoluten Kern, ihre Essenz. Dann nutzt er den geradezu symbiotischen Nexus zwischen den omnipräsenten, nach Inhalten dürstenden Medien und sich selbst, dem geheimnisumhüllten Grafitti-Sprayer, der im Moment der Entdeckung seiner Werke per definitionem nicht zugegen ist, um deren Bedeutung zu erläutern, um kommunikativen Raum …“
Fila-Frank hielt seinen Kopf zwischen den Händen und wimmerte verzweifelt: „Symbiotischer Nexus … Mann, hör auf, bitte! Mir platzt gleich der Schädel hier, soviel Sozialarbeiter-Bullshit in einem einzigen Satz kann doch kein Mensch ertragen.“
„Aber du wirst zugeben müssen, daß Banksys verfremdete Version von Edward Hoppers ‚Nighthawks‘ absolut brillant ist. Dieses Werk bringt gleich mehrere makrosoziale und politische Tendenzen der Gegenwart derart schonungslos und treffsicher auf den Punkt, daß es einem schlicht den Atem verschlägt: das Wegbrechen der traditionellen britischen Arbeiterklasse im postindustriellen Zeitalter, die gewalttätige Reaktanz als eine fast schon hilflos wirkende Antwort auf den Verfall tradierter sozialer Strukturen und Normen, die zunehmende Entfremdung zwischen einem wirtschaftlich dekadenten Großbritannien und seiner kulturell dekadenten ehemaligen Kolonie, den USA …“
„Meinst du das Bild mit dem Hool?“
„Ja.“
„Stimmt, das ist wirklich geil.“
„Sehr geil“, echote Big Tam, „eine schöne, faire Kampfszene. Man ahnt, daß der Hool diese verdammten Yankees gleich alle niederwichsen wird.“
Urs verließ die „Residenz Schloß Waldeck“ erst gegen drei Uhr. Frau Kourmansky war eine Seele von einem Menschen und ihr Kaffee vorzüglich, aber der heutige Termin hatte sich doch etwas hingezogen: Die Flut an schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft im allgemeinen und der Bankenbranche im besonderen war nun anscheinend auch in die Altenheime geschwappt. Diesmal hatte es Urs’ ganzer Überredungskunst bedurft, um Frau Kourmansky davon zu überzeugen, daß ihr Geld auch wirklich sicher angelegt war und noch ewig reichen würde.
Doch es war ihm gelungen. Urs verstand zwar nichts von den Finanzmärkten, aber desto mehr von betuchten alten Herrschaften. Auch er teilte deren instinktive Grundüberzeugung, daß eine große Bank, insbesondere eine große Schweizer Bank, zwangsläufig eine gute und sichere Bank sein mußte. Insofern fiel es ihm leicht, Callable Kick-In-Goal Worst-Of-Zertifikate, oder was auch immer die Bank den Kunden im Rahmen einer diskretionären Mandatslösung sonst noch eigenmächtig ins Depot gemischt haben mochte, als der Weisheit letzten Schluß zu verkaufen, so sicher wie Bundesanleihen, aber doppelt so lukrativ, mindestens.
Schon auf halbem Wege die Auffahrt hinunter bemerkte Urs den Ford Focus. Er konnte nicht sagen, was genau ihn an dem Ford störte, aber irgendwie war dieser Anblick nicht ganz stimmig, paßten der Wagen und seine Insassen nicht hundertprozentig ins Bild.
Drei Männer in einem Wagen, das war grundsätzlich ein bißchen ungewöhnlich. Außerdem blickten die Männer stur geradeaus, obwohl Schloß Waldeck doch nun wirklich ein imposanter Anblick war.
Selbst langjährige Anwohner würden im Vorbeifahren zumindest mal einen kurzen Blick auf dieses prächtige Anwesen werfen, oder?
Der Ford Focus rollte langsam davon, westwärts. Urs beschleunigte diskret seinen Schritt, um einen Blick auf das Kennzeichen des Wagens zu werfen, aber es gelang ihm nicht, da der Ford nun ebenfalls beschleunigte. Als Urs das große Tor der Auffahrt erreichte, war er bereits außer Sicht.
Urs ging gleichfalls westwärts die Straße entlang, langsam und nachdenklich, blickte sich dabei um. Die innere Stimme von Urs dem Privatmann erinnerte ihn daran, daß er heute noch nicht zu Mittag gegessen hatte, daß Frau Kourmanskys Kuchen seinen Appetit erst recht angeregt hatte, daß er ziemlich spät dran war, daß er vor seinem nächsten Kundentermin noch ins Hotel einchecken wollte, daß er hier gerade aus einer Mücke einen Elefanten machte.
Die innere Stimme von Urs dem professionellen Nachrichtendienstler hielt dagegen, daß es im Verlauf seiner heutigen Anreise gleich zwei ungewöhnliche Vorfälle gegeben hatte, und – jetzt fiel es ihm wieder ein! – daß ihn vorhin ein sehr ähnlich aussehender Wagen mit halsbrecherischem Tempo auf der Einfahrt zur Autobahnraststätte überholt hatte. Das mußte nichts zu bedeuten haben, könnte es aber. Und wenn es etwas zu bedeuten hatte, was könnte das sein?
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