Emma hatte die Pflanzenkataloge zur Seite gelegt und den Tisch gedeckt. Vielleicht würde der Sauerkrautauflauf mit Kartoffelbrei, der praktisch aus Butter bestand, Floria aus ihrem Zimmer locken. Das Sauerkraut, in Sekt und Honig gekocht, gehörte zu den Lieblingsspeisen ihrer Enkelin.
Auch Alex liebte diesen Auflauf. Sie hatte ihn eingeladen. Er steckte so voller wunderbarer Geschichten. Sie hoffte, dass er Flo damit ein wenig aufheitern konnte.
Alex hatte ihr die Lust am Leben und der Liebe wiedergegeben. Sie sah ihn als jungen Arzt bei ihrer ersten Begegnung. Emma hatte am Morgen, an dem sie den Bürgermeister tot in seinem Bett fand, darum gebeten, Doktor Mendel zu schicken, nicht den alten Arzt, der ein Freund ihres Mannes gewesen war. Dieser Bitte war die Arzthelferin nachgekommen. Es wäre zu bitter gewesen, hatte Emma argumentiert, wenn ein Freund seinen Tod bescheinigen müsse.
»Selbstverständlich, Frau Bürgermeister.«
Nach der Feuerbestattung ihres Mannes war Emma mit ihrer Tochter in das geräumige alte Bauernhaus ihrer Eltern am Kanal gezogen. Im Haus am Markt zog der neue Bürgermeister ein. Seit beinahe sechzig Jahren waren sie und Alex nun ein Paar.
Als sie ihn kommen hörte, griff sie sich ordnend in ihr weißes Haar. Ihr Gesicht war gerötet von der Hitze, des Herdes. Emma nahm die Schürze ab und wandte sich zur Tür, als Alex eintrat. Sie war immer noch eitel.
»Mein Schöne.« Er nahm sie in den Arm. »Hier duftet es paradiesisch.«
»Lass mich los, alter Zausel. Flo könnte…« Er drückte sie fester. »Weißt du noch, wie sie am Sonntagmorgen immer in unser Bett gekrochen kam? Floria hat sicher schon bemerkt, dass du mich liebst.«
»Tu ich das?«
Er lachte. »Ja, das weiß ich, auch wenn du es zu verbergen suchst.«
Er sah sich um. »Wo ist das Kind?«
»Oben. Du könntest sie herunterlocken.«
»Bin schon unterwegs.«
Als Emma die Treppenstufe knarzen hörte, nahm sie den Korkenzieher aus der Schublade und legte ihn neben die Weinflasche, die er mitgebracht hatte.
Wie lange werden wir uns noch haben, mein Lieber. Emma wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Reiß dich zusammen, du dumme alte Frau.
Sie öffnete die Herdklappe und stellte den Auflauf auf den Tisch.
Floria war totenbleich. Die Grippe hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestand. Doktor Mendel erschrak. Dass sein junger Kollege sich Sorgen machte, konnte er bei ihrem Anblick verstehen.
»Na, Kleine. Emma hat dein Lieblingsgericht gekocht.«
»Sauerkrautauflauf? Ich kann es riechen. Und deines, wenn ich mich recht erinnere?«
»Genau. Deshalb gehen wir zwei jetzt in die Küche und essen. Wir können sie nicht enttäuschen.«
Nein, das konnten sie nicht. Wenn sich in ihr auch alles sträubte, sie würde sich zum Essen zwingen. »Ich zieh mir was über, Alex, bin gleich da.«
Flora trug einen uralten Kapuzenpullover und viel zu weite Jogginghosen. Elegant ist anders , dachte sie, als sie die warme Küche betrat.
»Da bist du ja, Flo. Das Essen ist fertig, wir können gleich anfangen.«
Floria biss in die braune knusprige Kruste, die den Auflauf bedeckte. Mit dem Geschmack kamen ihre Erinnerungen wieder, an die Zeit, die sie hier verbracht hatte.
Sorglos, so würde sie ihre Kindheit und Jugend beschreiben. Alex und Emma waren immer für sie da gewesen. Ihre Mutter hatte ihr nicht gefehlt. Dianes seltene Besuche waren eher störend gewesen, um nicht zu sagen, desaströs. Von ihrem Vater hatte sie nichts gewusst und nichts gewollt. Die Kerzen auf der Fensterbank flackerten. Florias Wangen bekamen im Lauf des Abends Farbe. Ihre Gespräche drehten sich um die gemeinsame Vergangenheit.
Am nächsten Morgen weckte Katjas helle Stimme Floria. Gestern, in Alex’ und Emmas Gesellschaft, hatte sie für Stunden ihr Unglück vergessen können. Jetzt überkam sie die Angst vor der Zukunft mit aller Macht. Sie war allein. Nie wieder würde Christof sie in die Arme nehmen. Mit ihm hatte sie ihre Stimme und ihre Zukunft verloren.
Du musst aufstehen, es nützt nichts, dir das Kissen über den Kopf zu stülpen.
Sie hörte ihr eigenes Kinderlachen, wenn sie am Morgen mit Emma in den Garten ging. Vorbei an der Sandkiste und der hohen Schaukel, die auch jetzt noch an dem alten Apfelbaum hing. Floria konnte hören, dass Katja darauf saß. Das leise Knarzen der Seile am Ast des Baumes verriet es ihr.
»Wir müssen sie für den Winter abnehmen, Katja.«
»Warum, Emma?«
»Damit die Seile, wenn es friert, nicht brechen.«
»Kannst du da hochklettern?«
Emmas Lachen.
»Nein, Katja. Tim nimmt sie ab, und nächstes Jahr im Frühjahr hängt er sie für dich wieder auf.«
Jedes Jahr hatte Floria sehnsüchtig auf die Schaukel gewartet. Der Baum, glaubte sie damals, wartete mit ihr. Er sah doppelt kahl aus, ohne seine Blätter und ohne die starken Seile, die ihre Schaukel hielten.
»Sei ruhig, Ramses. Das ist doch nur Tim.«
Katjas Stimme wurde leiser. Das Bellen des Hundes brach ab.
»Moin, Emma.« Die tiefe Stimme des Gärtners klang wie immer, fröhlich und gelassen.
»Moin, Tim.«
»Wir kriegen Schnee.«
»Wann?«
»In den nächsten Tagen.« Tim war so wortkarg wie alle hier.
»Du musst meine Schaukel abnehmen, Tim, hat Emma gesagt.«
»Dann wollen wir mal, Mädchen. Nimm mir den Höllenhund von den Füßen, damit ich die Leiter anstellen kann.«
»Mach auch gleich den Schnitt.«
»Alles klar, Emma.«
»Tut das weh?«
»Ne, Mädchen, ist wie Haare schneiden.«
Floria hörte das metallene Scheppern der Leiter, die Tim unter dem Baum aufbaute. Tim , dachte sie, war schon immer Emmas Helfer gewesen.
Er konnte alles und ihn als Gärtner zu bezeichnen, griff viel zu eng.
Er strich Emmas Haus an, deckte das Dach, falls es durchregnete und kümmerte sich um alles, was anfiel. Tim hatte ihr auch gezeigt, wie man Würmer ausgrub und auf den Angelhaken spießte.
Wenn sie einen oder zwei winzige Fische aus dem Kanal gezogen hatte, schabte Emma die Schuppen ab, nahm sie aus, rieb sie mit Kräutern und Gewürzen ein und briet sie in Butter. Floria lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen.
Die Haustür ging auf und klappte wieder zu. Floria warf Kissen und Daunendecke zur Seite und stellte die bloßen Füße auf den kalten Fußboden.
In der Küche roch es nach Hefeteig und schwarzem Kaffee. Frische Rosinenschnecken standen auf der Anrichte und die Kaffeekanne stand dampfend auf dem Tisch.
»Guten Morgen.«
Floria küsste Emma auf die Wange. Sie war eiskalt.
»Du bist ja ganz kalt, Emma.«
»Kein Wunder, ich war bis eben draußen. Tim ist da.«
»Ich weiß, hab Katja und ihn gehört.«
Emma stellte die Schnecken auf den Tisch und schenkte Floria Kaffee ein.
»Wir müssen den Garten auf den Winter vorbereiten.«
»Ja, den Apfelbaum beschneiden, Rosen abdecken und sicher hast du noch ein oder zwei Zwiebeln im Keller, die vor dem Frost in die Erde müssen?«
Emma sah ihre Enkelin amüsiert an. »Du hast ja doch aufgepasst.«
Floria sah Emma nach. »Ich will nur eben noch Tim ein bisschen unterstützen.«
Sie kannte diesen Satz. Wenn Emma ‚ein bisschen’ in den Garten ging, konnte das bedeuten, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder hereinkam.
Sie aß eine der Rosinenschnecken und trank ihren Kaffee. Floria blätterte durch die Gartenprospekte auf dem Tisch. Ganz zuunterst fand sie eine Zeitschrift.
Trauer um Christof Corman
Die Schlagzeile flimmerte vor ihren Augen. Sie sah nach dem Datum des Artikels. Die Zeitschrift war drei Wochen alt. Exakt der Tag, an dem sie in ihren Fieberträumen versank. Die Trauerfeier hatte in seiner Heimatstadt ohne sie stattgefunden. Sie hatte sich nicht einmal verabschieden können. Schwerfällig stand sie auf. Warum hatte niemand sie benachrichtigt?
Читать дальше