Ein alter Arbeiter, früher SPDler: „Die lassen mich nur nicht nach England zu meinem Sohn, damit ich dort nicht nachsehe im Grab von Karl Marx, wie oft der sich seit seinem Tod umgedreht hat.“
Eine Revolution, eine ökonomische oder politische Umwälzung ist zu erwarten, sobald sich eine herrschende Schicht geistig und materiell abkapselt, sobald sie die Brücken zwischen sich und der Masse des Volkes zerstört. Solange ein ständiges personelles Fließen von einer Klasse zu den anderen durch keine engen Kastenschranken gehemmt wird, bleibt eine Gesellschaft lebensfähig. Wenn sie sich vom Wollen und Wünschen des Volkes, dessen Interessen isoliert, hebt sie den Zweck ihres Daseins als Führungsschicht des Volkes auf. Im 20. Jahrhundert wurde diese These durch die Oktoberrevolution und den ungarischen Herbstaufstand 1956 bewiesen.
Paul Fröhlich (1. Bezirkssekretär der SED): Kein Zurückweichen vor gegnerischen Meinungen. Die Wirtschaft störfrei machen, aber keine Einschränkung der Konsumgüterproduktion. Überall unbedingte Planerfüllung. Nicht ganz so kleinlich bei der Erteilung von Gewerbescheinen für private Einzelhändler sein.
Man kritisiert bei uns negative Erscheinungen im Westen, die doch auch bei uns noch da sind: z.B. Hakenkreuzschmierereien. Die gelangen nur nicht in die Öffentlichkeit.
Als ich bei Wolfgang Leonhard von jenen Pajoks für Funktionäre nach 1945 las – so etwas lässt bei Jugendlichen in der DDR, die sich aus ihrem Gerechtigkeitsgefühl heraus für den Kommunismus begeistern, den Glauben dahinschwinden.
(Pajoks = sowjetische Lebensmittelpakete für SED-Funktionäre nach 1945)
Kurz nach seinem Beginn fing ich an, den „Freiheitssender 904“ zu hören. Ich höre ihn, wie viele andere ostdeutsche Jugendliche, um legal westliche Musik zu hören.
Einstündige Versammlung im Betrieb über die Fragen der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Betrieb hat keine Plangröße erfüllt. Die Arbeitszeit der Produktionsarbeiter wurde nur zu drei Vierteln durch Produktionsarbeit ausgelastet. Die Ausfallstunden für staatsbürgerliche Betätigung seien ständig stark angestiegen. Das Verhältnis der Produktionshilfskosten zu den Produktionskosten ist insgesamt gestiegen. Der Betrieb hat noch einige zigtausend Stunden einzusparen. Sämtliche Arbeiter sind aufgerufen, die Produktion zu verbessern und zu vereinfachen.
Der Betrieb wollte ein neues Kesselhaus bauen. Die Kessel sind auch gekommen, die Baukapazität aber wurde gestrichen. H. meint: Wenn Arbeiter etwas kaputt machen, sagt man Sabotage, aber wenn oben falsch geplant wird, was sagt man da?
Die ökonomischen Schwierigkeiten müssen unerhört sein.
Führte Napoleon alte Adelstitel wieder ein, so führten auch Stalin u.a. kommunistische Herrscher alte Uniformen, Titel, Rangbezeichnungen wieder ein. Ein Unterschied jedoch: Benannte Napoleon seine Marschälle und Getreuen nach Städten und Orten, so gab Stalin Städten und Orten die Namen von sich und seinen Getreuen.
Bekamen als Ferienaushilfe einen Studenten von der Außenhandelshochschule in Berlin. Er erzählte, in Dresden hätten Oberschüler einen Straßenbahnerstreik organisieren wollen, zwei seien verhaftet worden, aus Solidarität wäre die ganze übrige Klasse in den Westen geflohen. Als Student wohnt er im Internat, habe ein Westberlin-Verbot und dürfe auch keine anderen Verbindungen in den Westen haben. Unter den Studenten seien auch „Bonzen“, die, wenn sie fachlich schlecht sind, auf jeden Fall durch die Prüfung gebracht werden. Da müsse man eben etwas „mitmimen“.
In der letzten Woche war Berlin auch bei den Arbeitern Hauptdiskussionsobjekt. Meinung: Sollte die Sowjetunion ihr Ziel erreichen, hat unsere Bevölkerung nichts mehr zu lachen.
Heute machte die Parteileitung statt einer Sitzung Sport: Kugelstoßen, Keulenweitwurf, 100-m-Lauf, Völkerball. Die z.T. dick gewordenen Funktionäre hatten es schwer. In der Leitung u.a. Kaderleiter, Produktionsdirektor. Letzterer sehr ordinär – Witze flogen hin und her – für seinen Posten.
Arbeiter: Er wolle nur noch soviel arbeiten, dass es fürs Essen und Wohnen reiche. Für seinen Mehrverdienst bekomme er ja nichts (Auto).
Bei uns im Betrieb waren polytechnische Schüler im letzten Jahr. Ein Mädchen, das politische Witze erzählte und vom sozialistischen Staat nicht besonders eingenommen war: „Im Westen möchte ich auch nicht sein.“
Warum ist die Jugend heute relativ interesselos an Ideologien? Anscheinend hat Gustave Le Bon doch nicht recht, dass die Erfahrungen der vorigen Generation für die folgende wertlos seien.
In Westdeutschland findet sich eine gewisse Selbstgefälligkeit. Ein deutsches Erbübel. Man fühlt sich dort wohl im neuen Gewande. Obwohl der alte Adam überall durchguckt.
BGL-Zusammensetzung bei uns:
24 Mitglieder:
9 Arbeiter
5 Meister/Abteilungsleiter
4 Angestellte
4 Ingenieure
2 hauptamtliche Funktionäre
(nur 7 sind nicht in der Partei).
Ein unsichtbares Spinnennetz von ungeschriebener Macht – man weiß nicht, wie es Anstöße registriert. Es ist so fein gesponnen, dass man es nicht erkennen kann, auch wenn man von seinem Dasein weiß.
Die Kugel, die unser Schicksal verkörpert, scheint sich mit täglich zunehmender Geschwindigkeit einem Ziel zu nähern. Und tatsächlich kann es nicht mehr lange so weiter gehen. Wir wissen, dass diese Kugel mit der Kollektivierung ins Rollen kam, dass alle Versuche, ihren Lauf zu stoppen, ihr nur neue Energie gaben, und wir wissen nicht, wohin sie laufen wird.
Ich stehe mitten auf der Grenze und gehöre niemandem an. Aber in dem schmalen Stück Niemandsland kann ich nicht bleiben.
Kollege war zum Empfang einer sowjetischen Delegation abkommandiert. Alle sollten in den Ruf ausbrechen: „Es lebe die unverbrüchliche Freundschaft zwischen dem großen Sowjetvolk und dem deutschen Volk.“
Mitteilung vom Amt für Zoll und Kontrolle, dass man „Sunday-Express“, „Le Soir“, „New York Times“ in einer Sendung an mich beschlagnahmt habe.
Arbeiter, der aus dem Westen stammt: 32 Meister in unserem Betrieb, z. T. seien sie „Pfeifen“. Auch wenn man davon Ahnung hätte, könnte man diesen Betrieb nicht rentabel machen. Dafür müsste man den „Saustall“ mit seinen vielen Funktionären ausmisten. Er will wieder „nach Hause“.
Ein anderer Kollege: Er hätte eine besser bezahlte Stelle in einem anderen Betrieb annehmen wollen. Es gelang nicht, weil dieser Betrieb hier ihn nicht habe verlieren wollen.
George Sch., bei NVA: „Wenn wir den Freiheitssender 904 hören, lachen wir immer.“
Ich fragte mich oft, warum können wir hier nicht sachlich und objektiv über Ereignisse und Tatsachen im Westen urteilen. Erklären konnte ich es mir erst, als ich lernte, dass auch wir eine herrschende Klasse haben, die aus Selbsterhaltungstrieb lügen und verleumden muss.
Kollege hat Kennedys Rede gehört. Selbst er mit seinen geringen politischen Kenntnissen war stark beeinflusst.
Ein verantwortlicher Funktionär gab „Ratschläge“ für die FDJ-Arbeit: Die Jugendlichen in einzelne Interessengruppen aufspalten. Arbeitsgemeinschaften und Interessengruppen bilden. So können wir an sie herankommen.
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