Rainer V. Schulz
Alltagsgeschichten aus der DDR
Erzählungen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rainer V. Schulz Alltagsgeschichten aus der DDR Erzählungen Dieses ebook wurde erstellt bei
E.R. GREULICH: Drei Anekdoten
ERHARD SCHERNER: Konstantin Mugele
HANS MÜNCHEBERG: Die Macht des Gesanges
HELMUT H. SCHULZ: Eine Platte für Frank
Uns trifft beide keine Schuld
CHRISTA MÜLLER: Candida
PETER GOSSE: Sechs Briefe an den Enkel
URSULA REINHOLD: Neue Horizonte
Hohe Schule oder wohin mit mir
GUNTER PREUß: Ein Tag aus dem Leben des Ulli Ferch
FRITZ LEVERENZ: Tanjas Bild
BEATE MORGENSTERN: Gemüse-Erna
Jenseits der Allee
Bildnachweis
Impressum neobooks
E.R. GREULICH: Drei Anekdoten
In der Professorenrunde des Fernsehfunks wurde einmal gefragt, was man davon halte, wenn ein Wissenschaftler seinen Vorgarten mit Gartenzwergen schmücke.
Ein tiefernstes Hin und Her begann. Der einzig Heitere blieb der junge Professor H., der die Gipsgnomen in seinem Vorgarten stehen hatte, um die Leute zu testen.
Nach der Sendung hielt sich ein bekannter älterer Professor an der Seite des Schalks und brummelte, wohl jeder Mensch habe irgendwo eine sentimentale Herzensecke, aber man müsse sie doch nicht so öffentlich preisgeben.
„Unter uns“, raunte er, „ich mag die lustigen Wichtel auch. Aber ich habe meine auf dem Dachboden aufgebaut.“
Immer die andern
Roland Rettisch hatte einem Mädchen zugehupt, zu lange hingeschaut und war mit etlichen Brüchen, Quetschungen und Kratzern davongekommen, wogegen es der BetriebsPKW mit einem Totalschaden büßen musste. Nun stand der junge Minnehuper vor der Konfliktkommission.
Der Vorsitzende fand den Fall verhältnismäßig überschaubar, da der Kollege Rettisch als einziger darin verwickelt sei. Als der zu Wort kam, erzählte er eine lange Geschichte, die seine Unschuld beweisen sollte. Endlich benutzte der Vorsitzende eine Atempause des Wortreichen und rekapitulierte:
„Wenn ich Sie recht verstanden habe, Kollege, sind Sie mit der Geschwindigkeit von zehn, höchstens aber fünfzig Kilometern je Stunde die Adlerstraße entlanggefahren. Plötzlich bewegte sich eine Litfaßsäule ohne Vorwarnung auf den Fahrdamm zu und derart in Ihr Blickfeld, dass Sie hart nach links ausweichen mussten. Dadurch gerieten Sie bedrohlich in die Nähe eines Sandkastens der Straßenbahn, der ohne Warnlicht zu dicht am Bordstein parkte. Geistesgegenwärtig rissen Sie Ihren Wagen wieder auf die rechte Seite und damit gegen jenen Baum, der sich viel zu weit links befand und durch keinerlei Blinkzeichen auf sein Ausscheren aufmerksam gemacht hatte.“
Der Sarkasmus erzeugte Heiterkeit im Raum, nur der motorisierte Heißsporn erklärte völlig ernst: „Sie haben die komplizierte Unfallsituation wirklich begriffen, Kollege.“
(Erstmals veröffentlicht in „Der Pudel, der nicht Mephisto war“, Verlag Neues Leben, Berlin, 1979)
Das erstaunlich Neue
Dem Genossen L. wurde im September 1961 die Leitung eines unserer größten Büromaschinenwerke übertragen, das elf Millionen Mark Planschulden hatte. Unter dem neuen Werkleiter wurde dann der Plan bereits im ersten Quartal 1962 übererfüllt.
Genosse L. hatte seine Tätigkeit damit begonnen, dass er jeden einzelnen Werkfunktionär zum Planrapport bat. Mehrere Kollegen schickte er fort mit der Bitte, morgen wiederzukommen, um knapper und konkreter vorzutragen. Dies wirkte wie eine Hiobsbotschaft auf die Leitungsmitglieder. Lediglich die beiden Kollegen K. und M. lächelten überlegen, denn sie waren bekannt wegen ihrer ‚guten Berichte‘.
Gewappnet mit einem Packen Blätter, trat dann K. beim Werkleiter ein. Nach zehn Minuten schloss er die Tür wieder von außen. M. stürzte auf ihn zu und argwöhnte, der Werkleiter sei wieder unzufrieden gewesen; dabei habe sich doch der Kollege K. solche Mühe mit dem Bericht gegeben.
„Das ist es ja“, klagte K., „Berichte gibt es genug, hat er gesagt, er möchte etwas über meine Arbeit erfahren.“
(Erstmals veröffentlicht in „Hinter vorgehaltener Hand“, Verlag Neues Leben, Berlin, 1984)
Berlin, Marx-Engels Platz 1986
Biehla, Fahnenappell, Datum nicht bekannt
ERHARD SCHERNER: Konstantin Mugele
Wie s ehen das die Genossen in der Zentrale ? Mugele ist zu einer Unterredung ins Hohe Haus geladen. „Guten Tag, Genosse“, begrüßt ihn Genossin Änne. Sie leitet die Kaderabteilung, der sich Mugele offenbaren soll. „Nun lernen wir dich einmal kennen, wo doch schon Gutes von dir zu hören war. In unsern Unterlagen fehlst du, hattest keine Funktion im Partei- und Staatsapparat, hast keine Parteischule besucht, auch nicht auf Kreisebene – wie sollen wir da von dir wissen?“
Genossin Änne erhebt sich von ihrer Schreibtischbarriere und bittet ihren Gast an ein Tischchen. Konstantin sitzt einer Frau in den 60zigern gegenüber, einer freundlichen, halb mütterlich, halb gestreng. „Wie bist du zu uns gestoßen?“, fragt sie. – Ui, die Antwort wäre ein Roman, denkt Konstantin. Sollte er vom Leben am Rand des Scheunenviertels berichten? Vom Krieg? Sollte er Heinrich Heine und Carl von Ossietzky nennen? Worauf lief das hinaus? „Im Prenzlauer Berg habe ich die neu entstandenen Parteien in ihren Versammlungen erlebt“, kürzt er ab. „Da war ich siebzehn. Richtig gut gefielen mir die Liberalen mit Papa Külz. Die hatten die geschmackvollsten Plakate. Alle mit dem Thema Freiheit . Das gefiel mir. Doch im Stadtbezirk? Zu den Gewerbetreibenden passte ich nicht. Ging auch noch zur Schule. Eingeprägt hatte sich mir, dass in der finsteren Zeit an manchen Hauseingängen ein einsames Lämpchen leuchtete, oft nur Glühbirne an einem Stück Kabel – das war in Berlin dem Vorschlag der KPD geschuldet. Die Kommunisten als Lichtbringer – Genossin Stengel, für einen gelernten Katholiken, der sich mit Luzifer auskennt, war das eine reizvolle Entdeckung.“
„Und heute besuchst du die Lichtzentrale und wunderst dich …“
„Was habt ihr vor? Um es gleich zu sagen: ich möchte nach China zurück, das passt zu meiner Familie …“
„Das dachte ich schon. Doch Genosse Bernhard Ziegler, Leiter der Kommission für Erleuchtung , fordert dich nachdrücklich an.“
„Davon verstehe ich nichts“, wirft Mugele ein.
„Das ist ihm klar“, sagt Genossin Änne. „Er hält es für einen Vorzug. Er will nicht, dass in seinem Vorzimmer Politik gemacht wird. Also nur Mut. Stoße dich nicht an dem hochgestochenen Namen der Kommission – es handelt sich keineswegs um abstrakt Spirituelles. Der Partei geht es um die Steuerung der Entwicklungsprozesse in Kultur und Künsten.“
„Wirklich, so was kann ich nicht.“
„Ist doch nicht schlimm. Begreif doch: Du kommst zu Bernhard Ziegler. Kein Kader hat so lange die russische Kulturentwicklung erlebt und begleitet wie er. Übrigens: Professor Ziegler lobt deine Findigkeit. Seid ihr euch mal begegnet?“
„Mehrfach, aber immer nur kurz. Nachdem er 1954 aus der sowjetischen Emigration heimgekehrt war, traf ich ihn auf der Wartburg. Er muss was mit den Burgen haben. Leuchtenden Auges sprach er vom Hohen Meißner anno 1913. Der ist ihm gegenwärtig wie der Kampf um den Kessel von Welikije Luki . Die frühe Jugendbewegung ist ihm nahe, insbesondere jener Flügel, der gegen den Krieg auftrat und 1918 in München Die Freie Sozialistische Jugend gründete. War zuständig, sagt er, ob bei den Demonstrationen durch die Stadt die Kommunisten die Kanone mitziehen oder nicht. Der Pazifist mit der Haubitze – das beeindruckt mich schon.“
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