Peter Pragal - Der geduldete Klassenfeind - Als West - Korrespondent in der DDR

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Er verlegte als der Erste unter den akkreditierten westdeutschen Korrespondenten 1974 seinen Wohnsitz in die DDR-Hauptstadt und zog mit seiner Familie freiwillig von München nach Ost-Berlin, wo er von nun an unter den Augen und Ohren der Stasi arbeitete und lebte. Peter Pragal war kein Sympathisant des kommunistischen Systems, auch kein Abenteurer. Er war Journalist auf Entdeckungstour. Um das Leben der Menschen im sozialistischen deutschen Staat realistisch schildern zu können, passten sich die Pragals dessen Alltag an. «Pragal war bemüht, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken», notierte die Stasi. So gelang es dem Autor, hinter die Fassaden der Diktatur zu schauen. Mit der Schärfe seines Blicks für die Unzulänglichkeiten des Arbeiter- und Bauernstaates wuchs sein Verständnis für die Menschen, die sich mit diesem System arrangieren mussten.AUTORENPORTRÄTPeter Pragal, geboren 1939 in Breslau. Studium der Publizistik und Politologie in Münster und München. -Besuch der Deutschen Journalistenschule. 1966 Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung. 1974 bis 1979 DDR-Korrespondent der SZ in Ost–Berlin. 1979 Wechsel zum Stern als Korrespondent und Büroleiter in Bonn. Von November 1983 bis 1990 erneut Korrespondent in Ost-Berlin. Zuständig auch für die -Berichterstattung aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. 1991 Wechsel zur Berliner -Zeitung. Politischer Korrespondent bis Juni 2004. Seither freier Journalist in Berlin. Gemeinsam mit Eckart D. Stratenschulte: «Der Monolog der Lautsprecher und andere Geschichten aus dem geteilten Berlin.»-

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Peter Pragal

Der geduldete Klassenfeind

Als West-Korrespondent in der DDR

Saga

»Wir schaffen das.«

Wir haben es geschafft.

Für meine Ehefrau Karin

Augenzeuge beim Mauerfall

Am Abend des 9. November 1989 saß ich im Wohnzimmer des Künstlers Trak Wendisch in der Florastraße in Berlin-Pankow. Ich war gekommen, um ein Bild auszusuchen, das ich meiner Frau Karin zu ihrem bevorstehenden Geburtstag schenken wollte. Ein Stillleben gefiel mir besonders gut. Ein Fliederstrauß in kräftig rot-violetten Farben. »Das nehme ich«, sagte ich. Über die Konditionen wurden wir uns schnell einig. Trakia, so der korrekte Vorname des Malers, sprach von einer bevorstehenden Reise in den Westen. Er besaß ein Mehrfach-Visum und plante, in den nächsten Tagen zur Kunstmesse nach Köln zu fahren. Seine Frau wollte ihn gern begleiten, glaubte aber nicht, dass die Behörden ihrem Antrag stattgeben würden. Demnächst gebe es ja ein neues Reisegesetz, sagte ich. Danach dürfe praktisch jeder DDR-Bürger in den Westen.

Zwei Stunden zuvor hatte ich an der Pressekonferenz teilgenommen, bei der Politbüromitglied Günter Schabowski im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße über die Beratungen des Zentralkomitees der SED informierte. Der Saal war überfüllt. Journalisten aus Ost und West drängten sich erwartungsvoll auf den Plätzen. Das DDR-Fernsehen übertrug das Frage- und Antwortspiel live. Aber was der SED-Funktionär in den ersten 50 Minuten von sich gab, war nicht sonderlich aufregend. Erst als ein italienischer Kollege gegen 19 Uhr nach dem Reisegesetz fragte, horchten die Medienvertreter auf.

»Wir haben uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen«, erklärte Schabowski. Der Mann war eigentlich eloquent. Was er hier von sich gab, war etwas umständlich formuliert. Er schaute auf einen Zettel und las stockend ab, was da aufgeschrieben war. »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.« Plötzlich war Spannung im Saal. Vorher hatte ich mich ein bisschen gelangweilt, nun war ich wie elektrisiert. Alle Augen richteten sich auf den Funktionär auf dem Podium. Er sah abgespannt aus. Zwischenfragen wurden gerufen. Wann die Regelung in Kraft trete, wollte ein Kollege wissen. Unsicher schaute der Mediensekretär auf die Notizen. »Nach meiner Kenntnis ... sofort, unverzüglich.« Zwei missverständliche, unbedacht gesprochene Worte, mit denen er eine Entwicklung von historischer Dimension auslöste.

Neben mir sprang ein Kollege auf und eilte zum Telefon. »Das ist eine Sensation«, rief er. Andere Journalisten stürzten hinterher. Reporter aus aller Welt hatten ihre Top-Meldung. »Jetzt«, murmelte jemand, »ist die Mauer überflüssig.« Ich dachte an den nächsten Tag und an den Redaktionsschluss. »Da werden wir wohl sehr früh aufstehen müssen«, sagte ich beim Hinausgehen zu einem befreundeten Korrespondenten. So wie wir die Menschen in der DDR kannten, würden sie schon lange vor Öffnung der Volkspolizeiämter anstehen, um sich die Genehmigung für einen Besuch im Westen zu holen. Ich überlegte, zu welcher VP-Stelle ich gehen sollte, um die Leute zu fragen, wie sie sich fühlten. Nun, da das Reisen über die Grenze kein Gnadenakt der Behörden mehr sein sollte. Der Gedanke, dass Ost-Berliner noch am selben Abend freien Ausgang aus dem Mauerstaat fordern würden, kam mir nicht in den Sinn.

Als ich bei meinen Freunden in Pankow eintraf, war die Tagesschau der ARD schon vorbei. »DDR öffnet Grenze«, lautete die Spitzenmeldung. Da machten sich die ersten DDR-Bürger auf den Weg zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Im Fernsehen lief ein Spielfilm. Noch spürten wir nichts von den bevorstehenden Ereignissen. Plötzlich wurde die Handlung unterbrochen. Eine neue Meldung über die Reisefreiheit. Kurz darauf läutete das Telefon. Die Ehefrau nahm den Hörer ab. Ihre Schwester habe sich erkundigt, ob wir mehr wüssten, sagte sie. Es gingen da merkwürdige Gerüchte um. Da hielt mich nichts mehr. Als Reporter wusste ich, was ich zu tun hatte. »Tschüss«, sagte ich, »ich muss sehen, was los ist.«

Ich setzte mich in mein Auto und fuhr in Richtung Grenzübergang. Als ich von der Schönhauser Allee in die Bornholmer Straße einbog, blickte ich auf eine Blechkarawane. Die Kolonne der Wagen war bereits mehrere Hundert Meter lang. Mit jeder Minute wurde sie länger. Hinten anstellen, wäre zwecklos, dachte ich. Mein Auto trug eine blaue DDR-Nummer, ein Sonderkennzeichen, das mich als Korrespondent auswies. Ich fuhr an den Trabis, Wartburgs und Ladas vorbei und kam bis kurz vor den Vorposten. Weiter ging es nicht. »Was ist denn hier los«, fragte ich einen Grenzoffizier. »Sehen Sie doch«, antwortete der Uniformierte und zuckte mit den Schultern. »Oder haben Sie keine Nachrichten gehört?«

Ich schaute mich um. Das Bild, das sich mir bot, war ungewohnt. Sonst warteten hier Besucher aus der Bundesrepublik auf die Kontrolle zur Ausreise. Jetzt war ich umgeben von DDR-Autos. Hinter den Scheiben sah ich überwiegend junge Leute mit fröhlichen Gesichtern. Manche hupten, scherzten und lachten, wie Teilnehmer eines Happenings. »Wir fahren gleich in den Westen«, rief einer durchs geöffnete Fenster. Hinter mir sah ich auf den Gehsteigen Trauben von Menschen, die zur Grenze liefen. An der Endhaltestelle stauten sich die Straßenbahnen. Die Abfertigungsspuren vor mir waren verstopft. Ich hätte mit meinen Papieren passieren dürfen, aber ich war eingekeilt. Die Schlagbäume waren geschlossen. Einige Grenzposten liefen nervös und ratlos hin und her, andere blieben freundlich und locker. Ich holte meinen Schreibblock aus der Tasche, machte mir Notizen und wartete.

Was ich sah, war spektakulär. Nie zuvor in meinen elf Jahren als akkreditierter Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung und den Stern hatte ich einen solchen Ansturm von DDR-Bürgern auf die Grenze erlebt. Die wirkliche Dramatik aber spielte sich für mich unsichtbar hinter der Tür des Dienstzimmers von Oberstleutnant Harald Jäger in einer der Baracken ab. Der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheit, den ich erst viele Jahre später persönlich kennenlernte, war an diesem Abend als verantwortlicher Chef ein einsamer Mann. Ein linientreuer, an Befehl und Gehorsam gewöhnter Stasi-Offizier, der sich von seinen Vorgesetzten im Stich gelassen fühlte und in einer äußerst prekären Situation auf sich allein gestellt war. Er war verpflichtet, den Grenzübergang »zuverlässig zu schützen«, also niemanden ohne Befugnis passieren zu lassen. Aber er wusste auch, dass er mit seinen wenigen uniformierten Leuten die Menschenmassen nicht würde aufhalten können, falls diese gewaltsam den Grenzdurchbruch erzwingen wollten. Jäger stand vor einem Gewissenskonflikt und wusste nicht, was er tun sollte. Erst waren es Hunderte, dann Tausende, die sich – angelockt von den Rundfunk- und Fernsehmeldungen über die angeblich offene Grenze – vor den Absperrgittern drängten. Als die Rufe »Tor auf« immer lauter wurden, hatte er seinen Vorgesetzten in der Leitzentrale geradezu angefleht: »Es muss jetzt irgendeine Entscheidung fallen.« Aber der dortige Oberst hatte auch keine Weisung aus Erich Mielkes Staatssicherheits-Ministerium. In einer Stimmung, bei der sich Enttäuschung mit Resignation mischte, rang sich Jäger zu einem eigenmächtigen und folgenreichen Entschluss durch. »Macht den Schlagbaum auf«, befahl er.

Von dem Führungschaos in den Zentralen der DDR-Machthaber ahnte ich nichts, als ich in meinem Auto wartete. Einzelheiten erfuhr ich erst viel später. Grenzoffiziere hatten mir inzwischen einen Weg bis unmittelbar an die Abfertigungsbaracke gebahnt. Da ging plötzlich die Barriere auf. Anfangs versuchten einzelne Grenzer noch, einen Stempel in die ihnen hingehaltenen DDR-Personalausweise einzutragen. Doch schon bald gaben sie es auf. Zöllner standen tatenlos da und verfolgten irritiert das für sie wohl gespenstische Schauspiel. Ich fuhr über die Brücke, passierte den weißen Strich, der die Grenze markierte, und hielt hinter der gelben Telefonzelle auf der rechten Seite der Straße, schräg gegenüber der West-Berliner Zollstation. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Ich nahm einige Münzen aus meiner Geldbörse und rief die Stern -Redaktion in Hamburg an. »Schickt bitte die Fotografen hierher, die Grenze ist offen.« Das könne nicht sein, meinten die Kollegen. Sie schauten gerade im Fernsehen einen Live-Bericht vom Grenzübergang Invalidenstraße. Dort sei alles ruhig. »Ich rede von der Bornholmer Straße«, beharrte ich.

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