In diesem Moment kommen zwei Mädchen um die Ecke. Beide haben lachend ihre Köpfe nach hinten gewandt und unterhalten sich mit zwei Jungen, die, noch nicht sichtbar, aber deutlich zu hören, hinter ihnen herkommen. So nehmen die Mädchen nichts von dem wahr, was sie gleich erwartet. Robert steht jetzt dicht neben dem Schützen und sieht, wie sich dessen Finger langsam um den Abzug krümmt ... gleich wird der Schuss ausgelöst! Robert beugt sich vor und tippt mit der Hand seitlich auf den Lauf der Waffe, so dass sie leicht nach links schwingt. Im gleichen Moment löst sich der Schuss. Die Farbkugel platscht weit weg vom Ziel gegen die Wand und bildet dort einen hässlichen Farbklecks.
Erschrocken schauen die Mädchen auf die blutrot verschmierte Wand und begreifen noch gar nicht, was da eben geschehen ist. Die beiden Jungs, die die Mädchen begleiten, reagieren jedoch sofort. Heldenhaft laufen sie vor den Augen der Mädchen auf den Schützen zu. Der aber ist so verblüfft darüber, dass seine Kugel nicht getroffen hat, dass er noch immer unbeweglich dasteht. Es will ihm einfach nicht in den Kopf, dass sein Schuss danebenging. Seine beiden Kumpane packen ihn hastig von hinten am Gürtel und ziehen ihn zur Treppe. Alle drei stolpern eilig nach unten. Voller Genugtuung bleiben die beiden anderen Jungs oben auf der Treppe stehen, um auf die Mädchen zu warten – sicher werden sie sich gleich als Retter in der Not präsentieren, um Eindruck zu schinden! Na, ja, sollen sie, denkt Robert.
Er zieht sich so lautlos zurück, wie er gekommen ist. Schnell geht er in seine Klasse, und als dort noch kein anderer zu sehen ist, macht er sich mit „invisible“ wieder sichtbar. Er fühlt sich, als würde ihm das Amulett anerkennend über den Kopf streichen.
Jetzt füllen sich die Flure, nach und nach treffen die Schüler ein, die meisten müde, lustlos und unausgeschlafen. Chris und Tim kommen gleichzeitig zur Tür herein. „Robert, hast du gerade gesehen, was diese Vollidioten da angerichtet haben? Der ganze Flur ist beschmiert“, ereifert sich der schlaksige Tim. „Diese Bande hat hier wieder mal Krieg gespielt!“ Chris ergänzt: „Ich bin ja bloß neugierig, was der Direktor dazu sagt!“
Der Mathe-Lehrer tritt ein. Er hat einen Packen Hefte unter dem Arm. Die Schüler wechseln erstaunte Blicke: die Mathe-Arbeiten? Da hat sich der Söllner aber mit den Korrekturen beeilt!
„Die Arbeit ist schlecht ausgefallen“, beginnt Söllner und sein gutmütiges, rundes Gesicht wirkt ungewöhnlich streng. „Offensichtlich ist die Trigonometrie für etliche noch ein unbekannter Planet. Ich frage mich: Was haben wir eigentlich seit Wochen hier geübt? Leute, wo seid ihr mit euren Gedanken? Wenn ihr so weitermacht, werden die deutschen Schüler auch künftig im internationalen Vergleich ganz unten stehen!“ Robert schaut zu Mussad rüber. Der knetet sich erschrocken die Nase und wagt es nicht, aufzublicken.
„Ein paar angenehme Überraschungen gab es zum Glück auch“, fährt Söllner fort. „Eine Arbeit war sogar ganz überragend. Eine glatte Eins. Glückwunsch, Robert!“
Robert spürt, wie er brennend rot im Gesicht wird, alle schauen jetzt zu ihm hin. Für einen Augenblick denkt er an „invisible“. Das wäre was, sich jetzt einfach unsichtbar zu machen! Aber er lässt den Gedanken gleich wieder fallen. Wenn er seine Zauberkräfte so an die große Glocke hängen würde, dann würde das Amulett sie ihm gleich wieder abnehmen. Schließlich hat er ja die Auflage bekommen, dass niemand etwas davon mitkriegen darf. Söllners Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.
„Tja, und dann ist da noch unser neuer Schüler“, fährt der Mathe-Lehrer fort und macht ein paar Schritte in Mussads Richtung. Der duckt sich unwillkürlich, als erwarte er ein Donnerwetter über sich. Aber Söllner lächelt aufmunternd. „Das war schon ganz ordentlich, Mussad“, sagt er und legt das Mathe-Heft vor ihm auf den Tisch. Während Mussad mit zitternden Fingern das Heft aufschlägt und auf die Zensur starrt, als hätte er eben das achte Weltwunder entdeckt, fährt Söllner fort: „Nehmt euch ein Beispiel an euerm neuen Mitschüler! Eine Zwei plus, und das, obwohl er erst so kurz bei uns ist und sich ganz neu in die Materie einarbeiten musste.“ Robert bläst erleichtert die Luft aus. Dann hat das gemeinsame Büffeln also doch etwas gebracht!
Plötzlich hört er von draußen Stimmen. Offensichtlich bewegen sich da mehrere Personen auf dem Flur. Die diskutieren jetzt sicher über die verschmierten Wände, geht es Robert durch den Kopf. Wer das verursacht hat, ist ja wohl nicht schwer zu erraten.
Nach der Schule auf dem Nachhauseweg haben Chris und Tim nur ein Thema: die Mathe-Arbeit. Beide Freunde haben eine glatte Drei, aber sie haben ganz verschiedene Fehler gemacht. Tim ist der Meinung, dass Söllner ihm bei einer Aufgabe zu wenig Punkte gegeben hat. Robert hört nur mit halbem Ohr zu.
„Hey, Robert, wo bist du denn mit deinen Gedanken? Träumst wohl schon von der nächsten Eins?“, zieht Tim ihn auf, und in seiner Stimme schwingt ein Unterton von Neid mit.
Doch Robert seufzt nur bekümmert, die Mathe-Arbeit hat er längst abgehakt. Traurig erzählt er seinen beiden Freunden, dass Fred im Koma liegt. Die beiden wollen es nicht glauben, umso mehr, als sie hören, dass Fred von einem Blitz getroffen wurde. Von einem Blitz, der aus klarem Nachthimmel kam! „Das kann doch nicht sein, du verarschst uns doch“, knurrt Chris. „Ein Blitz aus heiterem Himmel, ohne Wolken, so was gibt es doch nicht!“
„Hey, du willst dich nur interessant machen!“, stimmt Tim ein. „Oder willst du etwa behaupten, dass jemand aus purem Jux mit Blitzen spielen kann?“
„Wenn es nur ein Jux wäre, hätte ich auch ein besseres Gefühl“, erwidert Robert. „Anscheinend experimentiert irgendjemand mit einer Energie, die noch völlig unbekannt ist. Jedenfalls ahnt auch die Polizei noch nicht, was da los ist.“
Jetzt werden die beiden Freunde doch unruhig.
„Stell dir nur vor, das ist wirklich so ...“, überlegt Tim und fuchtelt dabei so wild mit seinen Händen herum, dass er sich seine Brille von der Nase wischt. „Dann kann so einer doch alle Menschen bedrohen und niemand kommt an ihn heran!“ Rasch hebt er die Brille wieder auf und putzt sie an seiner Jeansjacke ab. „So ein Typ ist doch dann einfach unangreifbar!“
Chris stößt Robert leicht mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Du, das wäre absolut geil, wenn wir das entdecken könnten! Hast du schon ne Idee?“ Sie diskutieren noch eine Weile, bevor sie sich trennen. Natürlich sind sie zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen.
Robert geht hinter das Hochhaus in die Grünanlage und ruft nach Dulgur. Er wartet einige Zeit, aber sie kommt nicht. Ein wenig beunruhigt fährt er mit dem Aufzug nach oben in den elften Stock. Dulgur wird doch hoffentlich nichts passiert sein? Nein, sie ist bestimmt noch bei der Baustelle, sagt er sich, und wird bald einiges zu berichten haben.
Heute hat seine Mutter Reisfleisch für ihn warm gestellt, über das er sich mit Genuss hermacht. Danach zieht er sich in sein Zimmer zurück. Er ist schon fast mit seinen Hausaufgaben fertig, als Dulgur endlich an seinem Fenster erscheint. Ein Glück, ihr Federkleid ist glatt und glänzend wie immer, es ist ihr nichts zugestoßen!
„Robert, laufend werden in der Lagerhalle neben dem Grundstück Waren angeliefert“, sagt die kleine Taube und bewegt eifrig den Kopf auf und ab. „Ständig kommen Lastwagen, aus denen große Kisten ausgeladen werden! Auf der Straße vor dem Nachbargrundstück sind einige Reporter und ein Filmteam eingetroffen. Immer mehr Leute wollen das „Gruselgrundstück“ sehen. Allerdings hat niemand das Grundstück selbst betreten.“
Nachdem sie sich verabschiedet hat, beschließt Robert, selbst auf Erkundungstour zu gehen. Er schlüpft in seine heißgeliebten und ziemlich abgetragenen Jeans und ein dunkles T-Shirt, dazu die Tennisschuhe, nun ist er bereit. Ab in den Bus.
Читать дальше