Aber was Robert wirklich die Haare zu Berge stehen lässt, ist, dass Jakob dem schon schwer Verletzten Mund und Nase zuhält, bis kein Laut mehr zu hören ist. Dann richtet er sich auf und wischt seine Hände an der Hose trocken. „Dieser Mistkerl hätte mich fast gebissen“, murmelt er vor sich hin.
In einer immer größer werdenden Blutlache liegt nun der Tote. Es ist für Robert das erste Mal, dass er direkt mit einem Toten konfrontiert wird. Das Ganze kommt ihm unwirklich vor, fast wie in einem Fernsehkrimi. Aber dieser Mann vor ihm ist wirklich tot und wird nicht mehr aufstehen, wenn die nächste Filmszene beginnt! Robert spürt plötzlich ein Würgen im Hals und presst sich schnell die Hand auf den Mund, um sich nicht zu verraten. Noch bevor er sich von seinem Schock erholen kann, vernimmt er ein dumpfes Grollen in der Luft und der Boden unter seinen Füßen vibriert leicht. Was war das? Robert ist wie benommen. Erst dieser furchtbare Mord in seiner unmittelbaren Nähe und jetzt auch noch dieses sonderbare Donnergrollen!
Oh weh, jetzt wäre er fast erwischt worden! In seinem Schock hat Robert absolut nicht wahrgenommen, wie der dicke Hiller und der Italiener die Eisenstiege vom Büro heruntergekommen sind. Francescos Stimme dicht hinter ihm reißt ihn jäh zurück in die Wirklichkeit: „Was ist denn hier los, was war das für ein Donnern?“ Robert reagiert jetzt blitzschnell. Ohne sich umzudrehen, macht er ein paar Schritte nach vorn auf die Leiche zu. Dieser Mafioso stand nur etwa einen halben Meter hinter ihm in dem engen Gang zwischen den Stellagen!
Francescos Stimme klingt gefährlich leise. „Wieso liegt der Wurzer da unter der Kiste, ist er verletzt?“
Robert steigt geräuschlos über den ausgestreckten Arm des Toten und zwängt sich an der verkanteten Kiste vorbei. Jetzt hat er auch Jakob und Holger hinter sich. Als er endlich zurückblickt, bekommt er noch nachträglich einen Riesenschreck, denn Raum füllend stehen Hiller und Francesco in dem schmalen Gang zwischen den Kisten, direkt vor der Leiche. Er wäre unweigerlich erwischt worden, wenn er auch nur ein paar Sekunden länger da stehen geblieben wäre, wow! Er dankt insgeheim dem Amulett für seine verbesserte Form von „invisible“, denn mit nur 30 Minuten, wäre er hier ganz schon in die Bredouille geraten.
Holger blickt unterwürfig zu dem Italiener auf. „Wurzer hat eine aufgebrochene Kiste und deren Inhalt gesehen. Er hat zwar schnell so getan, als ob er nichts bemerkt hätte. Aber er hat!“, stößt er hastig hervor. „Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn zu beseitigen. Da hat Jakob ganz raffiniert diese Kiste auf ihn fallen lassen, Wurzer hat nichts mehr gemerkt. Jetzt ist das Problem beseitigt.“ Dabei strahlt Holger auch noch wie ein Honigkuchenpferd und scheint zu erwarten, dass er auch noch für seine Tat gelobt wird!
Doch Francesco ignoriert ihn einfach. „Sorgt dafür, dass der Kadaver verschwindet“, sagt er mit eisiger Stimme, „ich will ihn hier nicht mehr sehen. Bringt ihn wie üblich zu unserem Kontakt, ich werde euch schon anmelden.“
Hiller hat bisher stumm daneben gestanden, nur sein lautes, asthmatisches Atmen war zu hören. Doch jetzt kann er nicht mehr an sich halten. „Ihr Idioten, hat es keine andere Lösung gegeben? Nun haben wir einen Toten auf dem Hals!“, schnauft er wütend. „Und woher kam der laute Donner oder was war das?“ Die Situation wächst ihm offensichtlich über den Kopf. „Holger, steh nicht so teilnahmslos rum!“, schnauzt er ihn an, „sondern schau draußen nach, ob etwas zu sehen ist. Aber mal etwas plötzlich, sonst donnert es gleich bei dir!“
Das ist wieder typisch für den fetten Zwerg, denkt Robert. Selber macht er sich fast in die Hosen, wenn er einem gegenübersteht, der mehr zu sagen hat. Aber seine Untergebenen tritt er und behandelt sie wie Tiere.
Jakob steht nur teilnahmslos da und tut gar nichts, während Holger sofort zur Tür läuft.
Francesco ist schon wieder auf dem Weg nach oben ins Büro. „Schau nicht so blöd in der Gegend rum, sondern hol eine Folie, in der wir den Kerl hier verpacken können!“, herrscht er Jakob im Vorbeigehen an.
Jakob nickt nur und verschwindet. Unterdessen kommt Holger wieder zurück und berichtet Hiller, dass draußen absolut nichts zu sehen ist. Auch an der Baustelle nebenan gehen die Arbeiten ungestört weiter, niemand hat etwas gehört.
„Dann nimm dir jetzt den Jakob, verpackt die Leiche und lasst sie einfach verschwinden. Sie darf nicht mit uns in Verbindung gebracht werden. Verstanden? Wir haben nichts mit der Sache zu tun!“, quäkt Hiller, dreht sich um und watschelt Francesco hinterher.
Ziemlich leichtsinnig, diese Typen mit so einer heiklen Aufgabe zu beauftragen und sich dann nicht mehr darum zu kümmern, denkt Robert. Und natürlich bequem – so stiehlt der Dicke sich selbst aus der Verantwortung.
Mittlerweile ist Jakob mit einer dicken blauen Plastikfolie zurückgekommen, die er auf dem Boden ausbreitet. Nachdem sie die Kiste von dem leblosen Körper gewuchtet haben, drehen beide den Körper des Toten mit der Folie brutal zu einer Wurst, binden sie an beiden Enden zu und legen sie zur Seite. Jakob beginnt, mit Eimer und Lappen bewaffnet, den Boden zu reinigen. Mit heftig klopfendem Herzen beobachtet Robert die Männer. Das wird auf jeden Fall sattes Futter für den Hauptkommissar werden, Robert kennt ja sogar den Täter!
„Wir warten jetzt, bis es dunkel wird“, beschließt Holger, „allzu lange kann es ja nicht mehr dauern.“
Robert merkt, wie ihm das Ganze an die Nieren geht. Da wollte er sich eigentlich nur ein bisschen orientieren. Und was ist daraus geworden? Er ist einem Waffenschmuggel auf die Spur gekommen und er ist Augenzeuge eines Mordes geworden! Doch ein bisschen viel auf einmal, sagt er sich. Und dann war da noch dieses merkwürdige Donnern. Bei Fred und den anderen Vorfällen folgten auf das Donnergrollen immer auch Blitzeinschläge. Wieso dieses Mal nicht? Oder ist etwa woanders ein Blitz eingeschlagen?
Während Jakob und Holger die letzten Spuren ihres Verbrechens beseitigen und dann wieder weiter ihre Kisten schichten, schleicht Robert zu jener Seitenwand der Halle, die an das berüchtigte Grundstück angrenzt. Wieso konnten die Ratten hier nicht weiter kundschaften? Was war das für eine merkwürdige Strahlung, die sie daran gehindert hat? Fragen über Fragen. Fast sehnsüchtig denkt er an die Trigonometrie und den Satz des Pythagoras: Gäbe es hier doch auch so eine klare mathematische Formel, mit deren Hilfe sich alle Probleme lösen ließen! Aber das, worauf er sich da eingelassen hat, ist völlig unberechenbar und wird zunehmend gefährlicher.
Robert schleicht angespannt weiter. Aber hier ist nichts Besonderes zu sehen, zu spüren auch nicht. Wie in der vorderen Hälfte der Halle sind auch hier jede Menge Waren gelagert. Ware hört sich gut an, denkt Robert, es sind Kisten, die nicht erkennen lassen, was sie enthalten. Vielleicht ebenfalls Waffen? Aber das soll ihm jetzt egal sein, darum kann sich Hauptkommissar Werner später kümmern. Er selbst will sich jetzt erst mal umfassend über die Räumlichkeiten informieren. Er kommt zu den wuchtigen Papierrollen. Die müssen wohl Tonnen wiegen. Daraus werden die täglichen Zeitungen gemacht, beeindruckend so ein Papierungetüm mal aus der Nähe zu sehen.
Von der Empore her klingelt plötzlich ein Telefon. Es schrillt laut durch die ganze Halle. Robert sieht durch die Glaswand oben, dass Hiller den Hörer abnimmt. Zu hören ist von dem Gespräch nichts, aber Robert beobachtet, wie der Dicke sich während des Sprechens mehrmals untertänig verbeugt. Also spricht er mit einem Vorgesetzten, kombiniert Robert. Hiller legt den Hörer wieder auf und sagt etwas zu Francesco, dann gehen beide zur Tür und die Eisenstufen herunter. Wortlos wendet sich der Italiener zum Ausgang und verschwindet. Hiller kommt durch den Gang auf die beiden Arbeiter zu. Sofort schleicht Robert näher, um alles mitzubekommen.
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