Im Zentrum
Robert kritzelt für seine Eltern rasch eine Nachricht auf einen Zettel, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, wenn er erst später nach Hause kommt. Den Zettel legt er deutlich sichtbar auf den Küchentisch. Dann fährt er mit dem Bus runter in die Altstadt.
Noch ist es hell. Robert schlendert an der Baustelle vorbei in Richtung Lagerhalle. Auf der Baustelle ist noch Hochbetrieb, alle Kräne sind besetzt. Es werden dort lange Eisenstangen von einem LKW abgeladen. Ansonsten ist die Straße leer, offensichtlich interessiert sich jetzt kein Mensch mehr für das „Gruselgrundstück“ Robert geht weiter zur Halle. Sorgfältig vergewissert er sich nach allen Richtungen, dass niemand ihn beobachtet. Erst dann sagt er leise: „invisible“. Sofort ist da wieder das Supergefühl: einerseits keine Angst haben zu müssen, dass er erwischt wird, weil er ja unsichtbar ist, und trotzdem inmitten des Geschehens zu sein! Es ist ein bisschen wie einen spannenden Film anschauen, denkt Robert, aber doch noch viel besser, weil das, was da abläuft, Wirklichkeit ist – und weil ich da selbst eingreifen und was verändern kann! Einfach cool.
Er überquert beschwingt die Straße und geht als Erstes zu der kleinen Seitentür, aus der vor einigen Tagen die beiden Männer kamen, die ihn sich schnappen wollten. Ganz langsam und vorsichtig drückt er den Türgriff herunter – aber die Tür ist verschlossen. Er geht weiter zu dem Tor, das sich ungefähr in der Mitte dieser Längsseite befindet. Verdammt, das Tor ist auch verschlossen, wie soll er denn bloß in die Halle hineinkommen? Jetzt kann er es nur noch vom Parkplatz aus versuchen, auf dem gestern der LKW stand und ausgeladen wurde. Als Robert um die Ecke biegt, sieht er auf dem Parkplatz zwar keinen Lastwagen, aber mehrere PKWs parken, darunter auch den Alfa von Francesco. Also ist auf jeden Fall jemand in der Halle. Unbekümmert geht Robert zum Eingang und drückt wieder den Türgriff nach unten. Er fühlt sich völlig sicher. Es kann ihn ja niemand sehen! Sein Herz macht vor Freude einen kleinen Hüpfer: Diese Tür geht auf! Dann aber hält er erschrocken die Luft an. Dicht vor ihm, allerdings mit dem Rücken zu ihm, steht dieser Francesco und führt ein lautes Streitgespräch mit Hiller. Die Türen dieser Halle schließen anscheinend wirklich dicht, denn draußen war nichts von dem lautstarken Gespräch zu hören.
Hiller steht auf der Empore am Ende der Eisenstiege und brüllt über die halbe Halle. Als die Tür aufgeht, bricht er mitten im Satz ab, fuchtelt mit den Armen zur Tür hin und schreit: „Francesco, hinter dir ist jemand an der Tür!“
In solchen Momenten geschieht alles gleichzeitig. Robert ist geistesgegenwärtig sofort nach rechts in die Halle gehuscht, dicht an dem Italiener vorbei. Die weichen Sohlen der Tennisschuhe sind ihm jetzt eine unschätzbare Hilfe! Die Tür hat er offen gelassen, sie pendelt leicht in den Angeln.
Blitzschnell dreht sich Francesco um und springt zur Tür, stößt sie ganz auf und ist schon draußen. Ein verdammt gefährlicher Typ, erkennt Robert wieder. Schon einmal hat er diesen Burschen in Aktion gesehen. Dem darf er auf keinen Fall in die Hände geraten! Von draußen hört Robert ein leises Fluchen, dann kommt der Italiener wieder zurück. „Niemand zu sehen, alles leer! Diese blöde Tür schließt nicht richtig!“, ruft er verärgert zu Hiller hinauf. Der ist natürlich oben stehen geblieben und hat sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Francesco steigt über die Eisenstufen zu den Büroräumen hinauf. Beide gehen in das erste Büro und schließen die Tür hinter sich. Jetzt erst wagt Robert wieder normal zu atmen und sich umzusehen. Die Halle ist hell erleuchtet, im Hintergrund sind laute Geräusche von Motoren und Stimmen zu hören. Vorsichtiger als vorher geht Robert weiter. Er kontrolliert erst jeden Gang, bevor er in ihn einbiegt, ob er auch wirklich leer ist. Unsichtbar zu sein schützt nicht vor Berührungen. Das hätte vorhin ganz schön schief laufen können! Lieber nicht dran denken, was dieser Francesco mit ihm gemacht hätte, wenn sie sich berührt hätten ...
Mit etwas weichen Knien schleicht Robert weiter. Die erste Hälfte der Halle ist leer, niemand arbeitet hier. Die Regale sind voller Kartons, und Stapel großer Kisten ergänzen die langen Reihen. Mittlerweile hat Robert die Eisentreppe passiert und dringt, sich immer wieder absichernd, langsam in den hinteren Teil der Lagerflächen vor. Im Hintergrund sieht er wieder die großen Rollen Papier, die auch Dulgur aufgefallen sind. Die Geräusche der Arbeiter kommen jetzt ganz aus der Nähe.
Robert geht vorsichtig um die nächste Ecke, als er sie sieht: drei Männer, die mit einem Gabelstapler lange, schmale Kisten übereinander stapeln. Neben Holger erkennt Robert auch den zweiten Typen, der ihn vor einigen Tagen fangen wollte. Er wird Jakob gerufen. Er ist genauso groß wie dieser Holger, nur bedeutend kräftiger gebaut. Er hat volles dunkles Haar und eine fleischige, breite Nase. Schaut irgendwie komisch aus, der Mann, und ziemlich primitiv. Der Dritte im Bunde ist ein schon älterer Mann mit einer beginnenden Glatze und einem faltigen, etwas verhärmt wirkenden Gesicht, der gemeinsam mit Jakob eine der flachen Kisten hochwuchten will.
Robert spürt: irgendetwas muss jetzt geschehen. Er kann nicht immer nur zuschauen, sonst läuft alles im gleichen Trott weiter und es bringt gar nichts. Also muss er provozieren. Er richtet seine Augen fest auf die beiden mit ihrer Kiste und flüstert: „Stone“. Das hat er mittlerweile schon so oft ausprobiert, dass es fast zur Routine geworden ist. Und doch – dieses Mal erschrickt er selbst über die gewaltige Reaktion! Beide Männer haben die Kiste eben auf Kinnhöhe angehoben, als sie schön synchron, fast wie im Ballett, mit dem rechten Bein einknicken. Die Kiste kippt nach vorne und reißt die beiden Männer mit. Das Ganze spielt sich blitzschnell ab, begleitet von lautem Getöse, denn der Holzdeckel der Kiste hat sich bei dem Sturz gelöst und in Ölpapier gewickelte, lange, dicke Stangen fallen heraus. Holger packt den Mann in der blauen Arbeitskleidung am Kragen und reißt ihn zurück, Jakob krabbelt von alleine hoch. Robert ist schnell näher herangetreten und steht dicht bei den dreien in einer Nische zwischen Kisten.
Holger huscht ängstlich zu einer Ecke, von der aus er freien Blick zur Empore hat. Beruhigt kommt er zurück. „Seid bloß leise“, sagt er und legt seinen Finger auf den Mund, „und schließt diese blöde Kiste wieder. Francesco und Hiller haben nichts gehört.“
Jakob greift sich hastig eine der Stangen, dabei reißt die Verpackung an einem Ende auf. Der Schaft eines Karabiners ist zu sehen. Schnell deckt er wieder das Papier drüber und schielt dabei zu dem älteren Mann rüber. Doch es ist zu spät, der hat natürlich alles gesehen, auch wenn er sich jetzt bemüht, so zu tun, als ob er keine Ahnung hätte. Er dreht sich sofort um und will die nächste Kiste holen. Holger und Jakob schauen sich vielsagend an, sagen aber nichts. Holger zieht nur eine Augenbraue hoch. Dann stapeln sie weiter ihre Kisten, als ob nichts geschehen wäre.
Robert wendet sich ab und geht leise weiter. Jetzt hat er wieder einen Mosaikstein mehr: In den Kisten sind Gewehre. Aufmerksam schaut er sich die gestapelten Kisten näher an. Zweifellos sind das alles gut verpackte Waffen, die hier lagern. Da wird der Hauptkommissar ganz schön staunen, wenn er das hört. Meine Güte, was hat er da schon wieder entdeckt! Seit er mit dem Amulett zusammenarbeitet, stolpert er von einem Abenteuer ins nächste. Wie soll es nun weitergehen?, überlegt er. Da hört er hinter sich einen lauten Krach, gefolgt von einem schwachen, qualvollen Stöhnen. Sofort macht Robert kehrt und schleicht zu dem Gang zurück, in dem er die drei Männer beobachtet hat. Zuerst sieht er nur eine der großen Kisten quer auf dem Boden liegen, bei näherem Hinsehen aber erkennt er, dass der ältere Arbeiter, unnatürlich verrenkt, darunter liegt. Eine Ecke der Kiste hat ihm den Brustkorb eingedrückt.
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