›Du hast die Hälfte ausgelassen‹, stichelte sie, ›wo bleiben die Liebschaften, die Freundinnen, die Ehefrauen.‹ Der Rest der Frage klang fast ängstlich, so als wollte sie nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte, wollte bestimmte Realitäten nicht wahrhaben.
Sein Achselzucken sprach Bände, ›derzeit bin ich alleinstehend, Single, total vereinsamt, alles, was Dir an Begriffen dazu einfällt, trifft auf mich zu‹.
An dieser Stelle hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, als sie in seine Augen blickte, den Dackelblick den sie bereits von Brutus kannte. Von dem sie aber auch wusste, dass dieser ihn immer dann aufsetzte, wenn er etwas Bestimmtes erreichen wollte.
Die Zeit war wie im Flug vergangen, keiner hatte auch nur in Erwägung gezogen, ein einziges Mal auf eine Uhr zu sehen. Als sie nun spürte wie ihre Glieder immer schwerer, das Gähnen immer häufiger wurde, wusste sie, dass jetzt die Zeit gekommen war, das anzusprechen, was beide bisher bewusst vermieden hatten.
Unbewusst glitt ihr Blick zu dem Bett, dann sah sie ihn verlegen an, ›kann ich bei Dir schlafen, ich bin inzwischen so müde‹, das letzte Wort brachte sie nur noch unter Gähnen heraus. ›Bitte verstehe mich nicht falsch, aber ich möchte wirklich nur schlafen‹.
›Soll ich auf dem Sessel schlafen‹, die Frage kam eher zögerlich über seine Lippen, als er sie besorgt anblickte.
›Wenn wir uns beide nicht so breitmachen, passen wir bestimmt gemeinsam auf das Bett‹. Ihre Stimme klang burschikoser als sie sich fühlte, er sollte ihre plötzlich aufsteigende Angst nicht spüren. Plötzlich hatte sie Angst in einer bestimmten Schublade zu landen, die sie gerade bei ihm vermeiden wollte.
Eine übel riechende Wolke riss sie aus ihren Gedanken, ›Brutus du Ferkel, kannst du deine Blähungen nicht draußen absondern‹. Ihr Magen rebellierte, als sie die Türe öffnete, die direkt in den Garten führte. Ein tiefer Zug erfrischte ihre Lungen, langsam begann sich ihr Magen, wieder von dem Schock zu erholen.
›Brutus raus mit dir, wenn du fertig bist, kannst du wieder reinkommen. Los raus beweg dich endlich Brutus‹. Jetzt klang ihre Stimme schon unwilliger, bis sie sah, wie er sich mühsam erhob und mit gesenktem Kopf langsam an ihr vorbei trottete. Jetzt tat er ihr schon wieder leid, wie er als Büßer versuchte, eine Stelle zu finden, an der er sich entleeren konnte.
Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst drei viertel acht war, trotzdem wollte sie die Unterbrechung nutzen, um die Tiere zu füttern. Bei den Hühnern und Schweinen hatte sie kein Problem, Angst hatte sie bei den Gänsen, seit eine Bekanntschaft etwas schmerzhaft verlaufen war. Allerdings konnte sie diese auch von außerhalb des Freigeheges füttern, damit blieb sie außerhalb der Reichweite ihrer garstigen Schnäbel.
Das Futter befand sich in der angrenzenden Scheune, von wo aus sie alle Tiere füttern konnte, ohne die Scheune zu verlassen, sollte es während der Fütterungszeit regnen.
Schnell zog sie sich ihre Arbeitskleidung über, dann trat sie aus dem Hauseingang, von wo sie direkt auf das Freigehege der Gänse schaute. Sie waren ungewöhnlich ruhig am heutigen Morgen, auch die sonst üblichen Geräusche aus dem Schweinestall waren verstummt.
Ein leichter Schauer überlief ihren Rücken, plötzlich spürte sie, wie sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Diese ungewohnte Stille machte ihr zum ersten Mal bewusst, welche Geräusche eigentlich sonst so zu hören waren.
Weshalb heute diese Ruhe, sie trat in den Hof, sah sich um, dann ging sie, sich fortwährend umsehend auf das Tor der Scheune zu. Holger schien gestern Abend das Scheunentor nicht richtig geschlossen zu haben, denn sie konnte sehen, dass dieses einen Spalt offenstand.
Energisch schüttelte sie ihr Haupt, eigentlich entsprach dies nicht seinem Verhalten, wahrscheinlich waren es andere Gründe, die dazu geführt hatten. Jetzt machte sie sich schon wegen schlafender Gänse und schlafender Schweine verrückt, das musste an ihrer Schwangerschaft liegen, früher wäre ihr das nie passiert.
Mit neu erwachter Energie stieß sie das Tor auf, sie hatte das Problem erkannt, es lag ausschließlich an ihr, besser gesagt an ihrem Zustand.
Sie sah ihn sofort, oh nein, leise wimmernd ließ sie sich neben ihn sinken, seine Augen waren offen, aus seinem rechten Mundwinkel war ein bereits angetrocknetes Blutrinnsal sichtbar. Mit zitternden Händen griff sie an seinen Hals, sie wollte nicht glauben, dass er tot war, wollte nicht glauben, dass sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Blickte in seine graublauen Augen, die sie jetzt nur noch wässerig anstarrten.
Laut aufschluchzend sank ihr Kopf auf seine Brust, dann liefen ihre Tränen auf seinen Pullover, den er gestern Abend angezogen hatte. Sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hand in ihre Hände, dann drückte sie ihr tränennasses Gesicht hinein. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, er hatte sich so sehr auf seine Tochter gefreut. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so da gesessen und leise in seine Hand geschluchzt hatte, als sie eine zärtliche Berührung spürte.
Brutus stand neben ihr, seine mitleidigen Augen wirkten durchsichtig, als er seinen Kopf auf ihren Schenkel legte. Erst jetzt sah sie, worauf Holger lag, es war die alte Egge, die noch von ihrem Großvater benutzt worden war, die eigentlich als Erinnerungsstück immer an der Wand hängen sollte. Wie kam diese Egge auf den Hallenboden, wer hatte sie von der Wand abgenommen, sehr viel wichtiger war jedoch, wer hatte Holger umgebracht und hier auf die Egge gelegt.
Sie konnte später nicht sagen, wie sie ins Haus gekommen war, wie sie die Polizei angerufen hatte. Erst als der Polizeiwagen mit Blaulicht auf den Hof fuhr, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Holger, sie musste ihnen Holger zeigen, außerdem musste sie der Polizei den Mörder nennen. Dieser sollte nicht ungestraft davonkommen.
Sie stakste auf den Polizeiwagen zu, die Tränenspuren in ihrem Gesicht bewirkte ein maskenhaftes Aussehen, das die Beamten erschreckte.
›Haben Sie bei uns angerufen‹, die Frage der Beamtin kam zögerlich von der Beifahrerseite, die in diesem Moment geöffnet wurde. Dann mitfühlend, ›wo ist Ihr Mann‹, sie hatte sofort gesehen, dass eine Diskussion nicht möglich war, diese Frau wies alle Anzeichen eines Schocks auf.
Sie hatte nur zu der Scheune gezeigt, als beide Beamten auch schon losrannten, bereits am Eingang den Toten sahen, der von einem Hund bewacht wurde. Wahrscheinlich nur reflexartig versuchte er, die nicht mehr vorhandenen Zähne zu fletschen, als er leicht schwankend seine Verteidigungsstellung einnahm. Niemand sollte ihn abhalten, sein Herrchen vor diesen fremden Eindringlingen zu verteidigen.
›Ruf die Mordkommission an, ich glaube, der wurde tatsächlich umgebracht‹, stellte der erste Beamte nach einem flüchtigen Blick fest, ›dann versuche, dass die Frau den Hund von der Leiche entfernt.‹ Den Schluss hatte er fast geflüstert, er wollte nicht missverstanden werden, seine Kollegin war in diesen Dingen verbindlicher.
›Entschuldigen Sie‹, Maja Lieberknecht blickte auf die Frau, die angespannt auf einer Bank vor dem Haus saß und ohne Regung dem Treiben auf ihrem Hof zusah. ›Frau Geldern‹, sie wartete einen Augenblick, wollte sich vergewissern, dass ihre Anwesenheit wahrgenommen wurde, dann sprach sie weiter. ›Mein Name ist Maja Lieberknecht, ich möchte Ihnen mein Bedauern zum Tod Ihres Mannes ausdrücken ich werde den Tod Ihres Mannes untersuchen.‹
Sie wartete erneut auf eine Reaktion, ›ich werde mich zuerst in der Scheune umsehen, im Anschluss daran würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten, glauben Sie, dass das möglich ist‹.
Langsam kam Bewegung in die Frau, ihr Mund, begann sich zu bewegen. Maja Lieberknecht musste sehr genau zuhören, so leise kam die Antwort.
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