Die Macht der Territorialfürsten
In Deutschland macht sich Heinrich IV. nach Gregors Tod 1085 wieder daran, Bischöfe und andere kirchliche Würdenträger in ihre Ämter einzusetzen. Gleichzeitig wird die Opposition gegen ihn dadurch geschwächt, dass einige ihrer führenden Köpfe sterben. In Italien verschlechtert sich die Lage für den Kaiser, in Norditalien bildet sich der lombardische Städtebund, der von ihm lancierte Papst Clemens III. muss sich dem offiziellen Nachfolger Gregors geschlagen geben. Als sich auch noch der mächtige Erzbischof von Mailand gegen Heinrich mit dem offiziellen Papst verbündet, ist klar, dass das Reformlager im Sinne des verstorbenen Gregors VII. die Oberhand gewonnen hat. 1090 bricht Heinrich IV. zu seinem dritten Italienfeldzug auf, ist aber wegen der Sperrung der Alpenpässe durch den Städtebund bis 1096 zur Untätigkeit gezwungen. Die letzten Jahre seiner Regentschaft sind durch eine relative Stabilisierung der Herrschaft gekennzeichnet. Als er am 7. August 1106 in Lüttich stirbt, sind aber Probleme sichtbar geworden, die auch in den kommenden Jahrhunderten den deutschen Königen und Kaisern das Leben schwer machen werden.
Der deutsche König hat keine eigene, starke Machtbasis, von der aus er den Kampf gegen die Rivalen um die Krone hätte aufnehmen können. Die reichsinterne Opposition nutzt jede sich bietende Gelegenheit, um den König mit manchmal hemmungslosen Angriffen zu traktieren und zu schwächen. Die Fürsten und Herzöge können dagegen einen erheblichen Machtzuwachs verzeichnen. Sie können den König gleichsam an die Kandare nehmen. Der König kann nicht einmal über Krieg und Frieden entscheiden, ohne die Großen seines Reiches zu konsultieren. Aber aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit entwickelt sich in den kommenden Jahrhunderten ein politisches Zusammenspiel zwischen den Territorialmächten und der Zentralmacht. Das Königtum verliert Macht und Ansehen, die Fürsten und Herzöge entwickeln ein politisches Gegengewicht. Das führt zwar einerseits zu mitunter chaotischen Machtkonstellationen im deutschen Reich, verhindert aber andererseits eine zu starke, eventuell sogar despotische Macht des Königs. Aus dieser Balance der Kräfte entwickelt sich im Laufe der Jahre ein politisches System, das auf die Belange sowohl der königlichen Zentralmacht als auch auf die Wünsche der Territorien Rücksicht nehmen muss. Dieses Zusammenspiel ist eine der Grundlagen, aus denen der föderale Charakter hervorgeht, der bis heute die Bundesrepublik prägt. Mit einem modernen Begriff könnte man dem Deutschen Reich am Beginn des 12. Jahrhunderts eine ausgeprägte politische Heterogenität attestieren, die die eruptiven Kräfte im Lande bevorzugt und oft genug für heftigen internen Streit sorgt.
Im Gegensatz dazu haben die französischen Könige sehr rasch damit begonnen, ihre Krondomäne sorgsam auszubauen und als Basis der eigenen Macht zu etablieren. Für den französischen König – und das gilt besonders für die Zukunft – kommt die Bedrohung eher von außen als von innen, sodass dem Ausbau eines zentralistisch organisierten politischen Systems, in dem Paris schon früh die Rolle einer „Hauptstadt“ zukommt, nichts im Wege steht. Genau wie im östlichen Teil des alten Frankenreichs werden in diesen Jahren die grundlegenden Strukturen für den kommenden Staat gelegt: Frankreich ist bis heute ein zentralistisch organisierter Staat, in dem politische Macht nur von einem Ort ausgeht - Paris.
Der Investiturstreit geht am 23.September 1122 zu Ende. Nach zähen Verhandlungen wird auf den Lobwiesen bei Worms das „Wormser Konkordat“ unterzeichnet. Darin befreit Papst Kalixt II. (1060 – 1124) den Kaiser vom Kirchenbann, gestattet ihm die Anwesenheit bei Bischofs- und Abtwahlen, erlaubt die Belehnung der vom Papst erwählten Würdenträger und sichert dem Kaiser begrenzte Einflussmöglichkeiten bei strittigen Wahlen zu. Kaiser Heinrich V. muss die von seinem Vater konfiszierten Kirchengüter zurückgeben und obendrein garantieren, dass er der römischen Kirche „getreulich“ beistehen werde. Damit ist die römische Kurie eine reiche und mächtige Organisation geworden, denn sie wird mit dem „Wormser Konkordat“ wieder Eigentümerin der über das ganze Land verteilten Bistümer. Das Konkordat ist nicht nur an Papst Kalixt II. gerichtet, sondern an die „heilige römische Kirche“ im Allgemeinen. Damit gilt der militärische Beistand des deutschen Kaisers nicht nur für Heinrich V., sondern auch für alle seine Nachfolger.
Europa unter dem Kreuz der Christen
Nach dem Investiturstreit ist die Macht der Päpste gestärkt. Unter kaiserlichem Schutz wird nun die reine Lehre des vom Papst definierten christlichen Glaubens europaweit verbreitet. Die christliche Lehre entwickelt erhebliche Bindekräfte. Sie bietet den Menschen eine überirdische Erklärung ihres Lebens als eine Art Vorbereitung auf das Leben im Jenseits an. Dort – so die Heilsversprechung – werden sie für die irdischen Qualen reichlich entschädigt. Mit dieser simplen „Erklärung“ lassen sich für die einen alle irdischen Ungerechtigkeiten leichter ertragen und für die anderen besser rechtfertigen. Religion bekommt die Funktion eines irdischen Blitzableiters für Zustände auf der Welt, die ohne eine derartige Sinndeutung für viele Menschen nicht zu ertragen gewesen sind. Die einen profitieren von der durch den Vatikan interpretierten Bibel als Grundlage ihrer Herrschaft, für die anderen ist sie eher eine Anleitung zum Leiden.
In den nun folgenden Jahrhunderten werden im Namen der Heiligen Schrift die Armen gespeist und die Abweichler verbrannt. Es werden die Angepassten hofiert und die Kritiker auf den Scheiterhaufen gestellt. Wer die christliche Ordnung in Frage stellt, wird auf ganz und gar unchristliche Weise bestraft. Die „Universitas Christiana“ ist zwar einerseits eine erste „europäische Gemeinschaft“, andererseits übt sie aber religiösen Zwang aus, der weder andere Religionen noch andere Meinungen duldet. Häretiker, Heiden, Moslems und Juden haben in dieser christlichen Gemeinde nichts zu suchen und sie bekommen es auch bald zu spüren. Die europäischen Christen sind unter dem Kreuz ihres Herrn Jesus von Nazareth vereint. Aber vom Kreuz des christlichen Religionsstifters tropft bald das Blut Andersgläubiger.
Am 12. März 1088 wird Otto von Lagery als Papst Urban II. (1035 – 1099) in sein apostolisches Amt eingeführt. Ihn erreichen in regelmäßigen Abständen Berichte über angebliche oder tatsächliche Gräueltaten der Seldschuken an christlichen Pilgern, die sich alljährlich zu den heiligen Stätten Jerusalems aufmachen. Wie viel Übertreibungen und glatte Falschmeldungen die päpstlichen Ohren erreichen, ist nicht bekannt. Aber der aus dem Investiturstreit gestärkt hervorgegangene Papst nimmt diese Berichte zum Anlass, die militärische Macht der weltlichen Herrscher für die Zwecke der römischen Kirche zu instrumentalisieren.
Erster Kreuzzug
Sieben Jahre nach seiner Amtseinführung ruft Urban II. die weltlichen Herrscher zu den Waffen und verpflichtet sie 1095 zu einer christlichen Mission: Die gequälten und unterdrückten christlichen Brüder und Schwester im Heiligen Land, predigt Urban II., müssten aus den Krallen der „Heiden“ befreit werden. Bei dem nun folgenden 1. Kreuzzug ist der Papst der Oberbefehlshaber einer Armee, in der die mitreisenden Fürsten und Herzöge ihm direkt unterstellt sind. So endet das 11. Jahrhundert für das krisengeschüttelte Europa mit einer Herausforderung, die sie für nahezu 200 Jahre beschäftigen wird. Islamische Horden - so der Schreckensruf des Papstes - herrschen rund um Jerusalem, sperren die Wege zu den heiligen Stätten der Christenheit, plündern und brandschatzen das Gelobte Land. Als sich diese Nachrichten durch Berichte von frommen Pilgern bestätigen, kommt die christliche Propaganda in Schwung.
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