Matthias von Hellfeld
AKTE EUROPA
Geschichte eines Kontinents
Für meine Tochter Rebecca und die Kinder Europas
Die Menschen Europas stehen an der Schwelle zu einer neuen Epoche, von der noch niemand weiß, was sie bringen wird. Es gibt mehr Fragen als Antworten: Wo liegen die Grenzen Europas? Welche Länder gehören zu der oft beschworenen „Völkerfamilie“ Europas? Ist es besser die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen oder ihr eine besonders enge Partnerschaft anzubieten? Welches politische Gewicht wird Europa haben und wie wird es sein Verhältnis zu den anderen Ländern der Erde definieren? Wenn die Menschen aus der momentanen Unsicherheit keine Angst sondern Zuversicht ableiten wollen, sollten sie die Entwicklung ihres Kontinents kennen. Denn ohne das Wissen um die Vergangenheit lassen sich die Probleme der komplizierter gewordenen Gegenwart nicht verstehen. Geschichte ist die Tagespolitik der Vergangenheit, also ist die Politik der Gegenwart die Geschichte der Zukunft! Dabei ist die Erinnerung an die europäische Geschichte kein Selbstzweck, denn jeder Europäer hat europäische Vorfahren – sonst könnte er sich nicht seines heutigen Lebens erfreuen. Da jeder Mensch in der Tradition seiner Ahnen steht, ist jeder Europäer auch Teil der Geschichte seines Kontinents. Der Europäer ist Produkt und Teil der europäischen Geschichte, die er zu seinen Lebzeiten auf diesen Erfahrungen beruhend weitertreibt.
Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lässt – mehr oder weniger – als eine Abfolge von Kriegen betrachten, bei denen es fast immer um die Beherrschung der Mitte des Kontinents gegangen ist. Seit je her sind die Europäer davon abhängig, wie die geopolitische Mitte des Kontinents organisiert ist. Das ist nicht verwunderlich, denn wer von Nord nach Süd oder Ost nach West will, muss diesen Raum durchqueren. Dessen Beherrschung scheint deshalb seit je her ein lohnenswertes Ziel gewesen zu sein. Eine Vielzahl von Kriegen ist die Folge gewesen, in deren Verlauf Europas Erde an beinahe jeder Stelle mit dem Blut von Soldaten getränkt und von Bomben und Granaten zerpflügt worden ist. Nicht selten sind die Kriege in Europa mit dem Vorsatz „begründet“ gewesen, den Kontinent zu vereinigen. Aber bis 1945 haben diese Versuche unter kriegerischen Vorzeichen gestanden, mit denen der Aggressor die anderen Völker des Kontinents unter seine Vorherrschaft zwingen wollte.
Heute erleben wir den ersten Versuch die Einheit Europas auf friedlichem Wege zu bewerkstelligen. Die „Glasnost und Perestroika“-Politik des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschows hat dem Kontinent das größte denkbare Geschenk beschert: Die Chance auf eine friedliche Vereinigung. Aber dieses Geschenk birgt auch Herausforderungen, denn die bisher durch Mauer und Stacheldraht abgetrennten Osteuropäer sind nun unmittelbare Nachbarn geworden. Neben der Freude über die neu gewonnene Freiheit ruft das Sorgen vor der Bewältigung der daraus resultierenden Probleme hervor. Aber die „neuen“ Mitglieder der Europäischen Union sind keine Fremden, sondern haben über viele Jahrhunderte wie selbstverständlich zu Europa gehört.
Die Reise durch die Geschichte Europas beginnt - ohne wissenschaftlichen Anspruch und mit Mut zur Lücke - bei jenem fränkischen König, den man gerne als „Vater Europas“ bezeichnet. Er ist auf dem Höhepunkt seiner Macht und in seinem fränkischen Reich bereiten sich die Menschen gerade auf das 800. Wiegenfest ihres christlichen Herrn Jesus von Nazareth vor…
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Ein Überfall mit Folgen – das Reich Karls des Großen
732 - 816
… und ahnen natürlich nicht, was sich im fernen Petersdom zu Rom zur gleichen Zeit ereignet. Ihr König, der etwa 50jährige Karl, ist Gast des Papstes in der Basilika des Apostel Petrus. Die beiden wollen aber nicht nur das Weihnachtsfest gemeinsam feiern. Vielmehr gibt es handfeste politische Gründe, die den Frankenkönig veranlasst haben, den beschwerlichen Weg über die Alpen zum heiligen Vater in Rom anzutreten. Das Treffen der beiden Männer wird nicht nur historische Bedeutung erlangen, sondern es hat auch eine Vorgeschichte.
Leo III. wird am 26. Dezember 795 zum Papst gewählt. Als erste Amtshandlung übergibt der frisch gebackene apostolische Oberhirte den Schlüssel zum Grab des Heiligen Petrus als Zeichen seiner Treue dem fränkischen König Karl und das Banner der Stadt Rom, auf dass der Besitzer des Banners „Herr der römischen Miliz“ werde. Das ruft den Zorn einiger römischer Familien hervor, die fortan dem armen Mann das Leben schwer machen. Am Markustag, dem 25. April 799, wird Leo III. während einer feierlichen Bittprozession von Häschern seiner Feinde in vollem Ornat vom Pferd gerissen und in den Staub vor St. Peter gestürzt. Die Angelegenheit wird lebensbedrohlich, als die Täter damit beginnen, die päpstliche Zunge herauszuschneiden und ihn zu blenden. Sie lassen den Gequälten zunächst in seinem Blut liegen, bevor sie ihn in ein nahe gelegenes Kloster verschleppen. Aber die Angreifer sind nicht brutal genug vorgegangen, denn dem apostolischen Oberhirten bleiben sowohl die Sprechfähigkeit als auch das Augenlicht erhalten, was Zeitgenossen und Historikern als Wunder erscheint. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat flieht Leo III. im April 799 nach Paderborn, wo er sich mit dem Frankenkönig trifft. Die Annalen berichten von intensiven Gesprächen zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Herrscher, über deren Inhalt aber - offensichtlich erfolgreich - Stillschweigen bewahrt wird, denn bis heute wissen wir nicht genau, worüber die beiden tatsächlich gesprochen haben. Vermutlich diskutieren sie über die politische Lage in Rom und die Vorwürfe, denen sich Leo III. ausgesetzt sieht: Meineid und Ehebruch! Zudem geht es unter vier Augen wohl um die Beziehungen zwischen den beiden, denn Karl, der König der Franken, strebt nach mehr Macht und Einfluss und dabei kann ihm ein wohl gesonnener Papst nur Recht sein.
Zurück in Rom holt der Ärger seiner Widersacher den Papst wieder ein. Jene finsteren Zeitgenossen lauern ihm eines Tages auf, reißen den frommen Mann von seinem Pferd, verprügeln ihn, demolieren das päpstliche Gebiss, blenden seine Augen und bringen den so geschundenen Körper in ein nahe gelegenes Kloster. Ein Überfall mit weltpolitischen Folgen. Die Urheber dieses Frevels spekulieren nämlich darauf, den missliebigen Papst auf diese Weise los zu werden und einen anderen auf den Stuhl Petri zu hieven. Sie haben aber nicht mit der Courage eines Kämmerers des Papstes gerechnet, der unter höchster Gefahr für Leib und Leben einen Boten mit einer entsprechenden Botschaft zum König der Franken schickt. Als Karl von dieser Tat erfährt, beschließt er dem in Not geratenen obersten Christen zu helfen und holt ihn zu sich in ein Heerlager. Dort garantiert Karl dem verängstigten Papst Hilfe und komplimentiert ihn wieder nach Rom zurück – mit dem Versprechen, alsbald vor den Toren des Kirchenstaates zu erscheinen, um die aus dem Lot geratenen politischen Verhältnisse rund um den Petersdom wieder zu ordnen.
Zur Einlösung dieses Versprechens kommt es im Herbst 800. Leo III. sendet erneut ein Hilfeersuchen an den fränkischen König Karl, der sich - wie versprochen - Ende November 800 nach Italien aufmacht. Der Papst eilt ihm entgegen und begrüßt ihn eine knappe Tagesreise von Rom entfernt mit „höchster Verehrung“, wie überliefert ist. Nach einem guten Essen reist Leo III. wieder zurück in die „ewige“ Stadt, wo er am nächsten Tag seinen Retter mit den Bischöfen und dem gesamten Klerus auf den Stufen der Basilika des Apostel Petrus empfängt. Nach Beendigung der Formalitäten macht sich Karl daran, die Vorwürfe gegen den Papst zu prüfen. Seine Gegner halten dem Papst Meineid und – wie es noch häufiger auch bei anderen Päpsten geschehen wird – sexuelle Ausschweifungen vor. Diese Vorwürfe werden durch einen selbstreinigenden Eidesschwur des Beklagten aus der Welt geschafft und dem großen Ereignis am nächsten Tag steht nichts mehr im Wege.
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