Matthias von Hellfeld
Das lange 19. Jahrhundert
- von Washington bis Wilhelm II. -
zwischen Revolution und Krieg
1776 – 1914
Überarbeitete Version einer 2016 im Bonner Dietz-Verlag erschienenen Hardcover-Ausgabe unter Verwendung von Photographien von Gilbert Stuart (gemeinfrei) und Thomas Heinrich Vogt (gemeinfrei)
Inhaltsverzeichnis
1.) Das 19. Jahrhundert als Epoche
2.) Französische Revolution
Amerikanische Unabhängigkeit
Europa und die Revolution
Die Revolution frisst ihre Kinder
Eine Revolution mit Folgen
Napoleon
Putsch in Frankreich
Kaiserreich
Das Ende des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“
Französische Hegemonie in Europa
Reformen in Preußen
Europa gegen Napoleon
Einer allein ist nicht stärker als die anderen zusammen
3.) Wiener Kongress und Restauration
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Restauration, Solidarität und Legitimität
Der Deutsche Bund
Modernisierungsschub
„Heilige Allianz“
Die „deutsche Frage“
Karlsbader Beschlüsse
4.) Biedermeier und Romantik
Biedermeier
Familienleben
Bürgertum
Romantik
Die Suche nach der „blauen Blume“
Heimatgefühl und Rheinromantik
Weltanschauung der Romantik
5.) Armut und Industrialisierung
Epidemie der Armut
Soziale Frage
Stadtleben
Weberaufstand
Industrialisierung Europas
Industriemacht England
Der deutsche Zollverein
Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Auswanderung in die USA
Ökonomischer und sozialer Wandel
6.) Nationalismus und Liberalismus
Wartburgfest
Nationale Ursprünge
Nationenwerdung in Europa
Schwarz – Rot – Gold
„Deutschland, Deutschland über alles“
Das „junge Deutschland“
Liberalismus
Verfassungen
Demokratiebewegung
Vormärz
7.) Deutsche Revolution 1848/49
Märzforderungen
Aufstand in Österreich
Die Deutsche Nationalversammlung
Die Schleswig-Holstein-Frage
Robert Blum und die Konterrevolution
Die deutsche Frage
Friedrich Wilhelm IV.
Das Ende der Revolution
Die Folgen der Deutschen Revolution
8.) „Nation Building“ in Europa
Otto von Bismarck I
Krimkrieg
Die „neue Ära“
Deutsch – österreichischer Bruderkrieg
Der Norddeutsche Bund
Italienische Befreiung
Napoleon III.
Machtkampf in Spanien
Reichsgründung von oben
Das deutsche Kaiserreich
9.) Parteien, Bewegungen und Verbände
Kulturkampf
Sozialistengesetze
Gewerkschaften und Unternehmerverbände
Kulturpessimismus
Frauenbewegung
Jugendbewegung
Reformpädagogik und Freikörperkultur
10. ) Deutschland und Europa
Otto von Bismarck II
Berliner Kongress
Europäische Bündnisse
Afrika den Europäern!
1888: Das Dreikaiserjahr
Preußische Marktwirtschaft
Radikaler Nationalismus
Antisemitismus
„Die verspätete Nation“
11.) Der Weg in den Krieg
Wettlauf um die Macht
England
Frankreich
Russland
Panslawismus
Die russische Revolution 1905
Österreich-Ungarn
Deutsches Reich
Das Attentat von Sarajewo
Die Julikrise 1914
12.) Chronologie des „langen 19. Jahrhunderts“
13.) Literaturverzeichnis
1 Das 19. Jahrhundert als Epoche
Das „lange“ 19. Jahrhundert begann 1776 mit Revolution und Krieg in Amerika. Die Schlachtrufe der Amerikaner, die von französischen Soldaten unterstützt wurden, erreichten bald Europa und hallten 1789 während der Französischen Revolution wider. Die Ergebnisse der beiden Revolutionen zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts haben bis heute Bestand. Die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, das Prinzip des Verfassungsstaats, die Trennung von Kirche und Staat und der Vorrang des Individuums vor den Ansprüchen des Staates gehören zum Wertekanon moderner Demokratien. Die Französische Revolution brachte einen prägenden Modernisierungsschub, der die Staaten Europas zwang, adäquate Organisationsstrukturen zu entwickeln. Napoleon verbreitete den Code Civil über den Kontinent, brachte mit seinen Soldaten die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ unter die Leute und löste damit eine Kettenreaktion aus. Im Bewusstsein der Menschen des beginnenden 19. Jahrhunderts brachte die Französische Revolution eine kaum zu bewältigende Beschleunigung in ihr Leben. Binnen kurzer Zeit veränderte diese Revolution die Lebenswelt der meisten Europäer. Als die Ära der „Franzosenzeit“ zu Ende ging, konnten die Ergebnisse der Revolution nicht mehr zurückgenommen werden. Zwar folgte nach 1814 eine Phase der Restauration in Europa. Aber die Ideen von bürgerlichen Rechten, nationaler Einheit und liberalem Verfassungsstaat waren vom europäischen Kontinent nicht mehr zu tilgen. Die Revolution in Frankreich hatte einen tiefen Mentalitätswechsel bei vielen Menschen ausgelöst. In nahezu allen Ländern des Kontinents entstieg der nationale Geist aus den bis dahin fest verkorkten Flaschen und sorgte neben dem aufkommenden Nationalismus für liberale Verfassungsbewegungen, die nach Beteiligung an der Macht in den Staaten Europas riefen. Die Französische Revolution war 1789 der Beginn einer Epoche, die nicht nur das Ende der Revolution und die militärische Niederlage vor den Toren Leipzigs im Oktober 1813 überlebte, sondern bis in die Moderne nachwirkt.
Aus den Forderungen der Revolution entstanden die europäischen Nationalstaaten in England und Frankreich zuerst, dann in Griechenland, Belgien, Italien und Deutschland. Das „lange“ 19. Jahrhundert endete wie es begann: mit Revolution und Krieg, wozu die „inzwischen voll entfesselte“ Dynamik der Nationalstaaten entscheidend beitrug (Kocka, 2001). Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg von der Vielstaaterei des Mittelalters in eine moderne Organisation des Kontinents. Zu Lebzeiten des protestantischen Religionsstifters Martin Luther existierten knapp 500 eigenständige politische Einheiten in Europa. Sie alle pochten auf überkommene Rechte, eigene Zölle, Währungen und Gesetze. Von diesem geopolitischen Flickenteppich blieben am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts noch 25 übrig.
Für das „lange“ 19. Jahrhundert waren zwei Entwicklungen besonders prägend. Tragender Pfeiler des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts einstellte, war die Industrialisierung. Sie veränderte die Produktionsbedingungen, marginalisierte die bisherigen Familienstrukturen, löste die strukturelle Armut während des Pauperismus und mehrere Auswanderungswellen aus, war der Beginn der Urbanisierung Europas und gleichzeitig Ursache für soziale Bewegungen, die all das nicht wollten. Die zweite prägende Entwicklung war die Gründung der Nationalstaaten, deren negative Wirkmacht ins 20. Jahrhundert hineinragte und als ursächlich für den Ersten Weltkrieg gilt. Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts versprachen ihren Bürgern Gleichheit und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen. Nach und nach wollten sie „ihre“ Bürger am Wohlstand beteiligen, Verfassungen erlassen und Freiheit und Fortschritt garantieren. Diese hohen Ansprüche waren verbunden mit kultureller Homogenität und Identität mit einer gemeinsamen Geschichte, die zum Bezugspunkt über die sozialen Grenzen hinweg wurde. Gleichzeitig versprach der Nationalstaat „Abgrenzung und Behauptung gegen äußere Gegner“ (Janz, 2013) und entblößte damit die zweite Seite der Medaille, denn „Abgrenzung und Behauptung“ hatten natürlich auch ein kriegerisches Element. Nach der gescheiterten deutschen Revolution 1848/49 und der Reichsgründung 1871 griff die Nationalstaatsidee immer mehr auf Ost- und Südosteuropa über. Beim Berliner Kongress erhielten 1878 Serbien, Montenegro und Rumänien ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit, während Bulgarien teilweise autonom wurde. Mit der Ausdehnung der Nationalstaaten ging das Ende der multiethnischen Superstaaten einher. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich waren vor Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr in der Lage, als regionale Ordnungsmacht die ethnischen Konflikte in ihren Herrschaftsbereichen zu beruhigen.
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