Copyright © 2021 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
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Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © mauritius images/Huy Anh Nguyen/Alamy
ISBN 978-3-7117-2095-5
eISBN 978-3-7117-5445-5
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Melita H. Šunjić, 1955 geboren, hat Publizistik und Politikwissenschaft studiert und war zwanzig Jahre Pressesprecherin und leitende Kommunikationsexpertin des UN Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR). Sie ist 1957 selbst als Flüchtlingskind aus dem damaligen Jugoslawien nach Österreich gekommen.
MELITA H. ŠUNJIĆ
WIE FLUCHT UND MIGRATION ABLAUFEN
PICUS VERLAG WIEN
VORWORT
ASIF AUS AFGHANISTAN
DJAMAL UND BECCA AUS SYRIEN
BERHANE AUS ERITREA
DORINE AUS KAMERUN
KARIM AUS SYRIEN
MAMADOU AUS DEM SENEGAL
IMANI UND IDRIS AUS SOMALIA
NIHAD AUS DEM IRAK
GRACE AUS NIGERIA
FLÜCHTLINGE, ALSYWERBER, MIGRANTEN – EINE BEGRIFFSENTWIRRUNG
DIE DOPPELBÖDIGE MIGRATIONSDEBATTE
VON SCHLEPPERN UND MENSCHENHÄNDLERN
SEENOTRETTUNG
WELCHE MIGRATIONSPOLITIK SICH DIE BETROFFENEN WÜNSCHEN
DAS KRISENJAHR 2020 UND SEINE FOLGEN
SIEBEN THESEN FÜR EINE EUROPÄISCHE MIGRATIONSPOLITIK
Across the Borderline
There’s a place where I’ve been told
Every street is paved with gold
And it’s just across the borderline.
And when it’s time to take your turn
Here’s a lesson that you must learn:
You could lose more than you’ll ever hope to find.
When you reach the broken promised land
And every dream slips through your hands,
Then you’ll know that it’s too late to change your mind.
’Cause you’ve paid the price to come so far,
Just to wind up where you are,
And you’re still just across the borderline.
RY COODER
In der Migrationsdebatte geht es stets nur darum, wie sich die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten auf unsere Gesellschaft auswirkt. Stellt die Ankunft dieser Menschen eine humanitäre Verpflichtung und kulturelle Bereicherung dar oder eine Gefahr und einen schleichenden Identitätsverlust für Europa? Es ist eine durch und durch eurozentristische Debatte.
Nie fragen wir uns, wie es den Betroffenen selbst geht. Was bedeutet der Massenexodus von jungen Leuten für die Familien daheim und für die Herkunftsländer? Und welchen emotionalen und monetären Preis zahlen die Migrierenden selbst? Von welchem Europa haben sie zu Hause geträumt und was davon haben sie tatsächlich vorgefunden?
Man sollte nicht nur über Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten reden, sondern auch mit ihnen. Ich habe im Laufe der letzten zehn Jahre an die zweitausend Asylsuchende aus Ost- und Westafrika, aus dem Nahen Osten und aus Afghanistan selbst interviewt beziehungsweise Protokolle solcher Gespräche meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelesen. Diese Gespräche fanden vor der Abreise, auf der Reise und nach der Ankunft statt. In den sozialen Medien habe ich den Austausch zwischen Schleppern und ihren potenziellen Kunden untersucht, um zu begreifen, wie deren Transaktionen ablaufen. Opfer von Menschenhändlerringen haben mir erzählt, wie sie angelockt und betrogen wurden. Überlebende von Bootsunglücken im Mittelmeer haben ihre Erlebnisse geschildert und in Europa lebende anerkannte Flüchtlinge haben beschrieben, wie sie sich hier fühlen und was von ihren Träumen übrig geblieben ist.
Dieses Buch enthält neun Kurzgeschichten über Männer und Frauen, die auf irreguläre Weise nach Europa gekommen sind. Die Texte porträtieren keine real existierenden Einzelpersonen, trotzdem ist nichts darin erfunden. Alle Details stammen aus Interviewprotokollen und sind tatsächlich Menschen widerfahren. Ich habe die typischen Beispiele nur neu zusammengesetzt, um die Vertraulichkeit der Interviews nicht zu verraten.
Seit Jahren nervt mich überdies, dass die Migrationsdebatte polarisiert und sehr emotional, aber ohne Sachkenntnis geführt wird. Begriffe werden durcheinandergewirbelt und diese hochkomplexe, facettenreiche Thematik wird sozusagen in Schwarz-Weiß diskutiert, ohne Rücksicht auf die vielen Zwischentöne. Es ist ein fruchtloser Austausch von ideologisch geprägten Justament-Standpunkten, der sich in einer Endlosschleife wiederholt, ohne Lösungen hervorzubringen.
Daher schließen sich an die Lebensgeschichten der Betroffenen mehrere Sachkapitel an, in denen die wichtigsten Aspekte der Migrationsdebatte allgemein verständlich erklärt und begründet und Lösungen aufgezeigt werden.
Ende 2019 beschloss ich, mein Wissen nicht länger nur mit Forscherinnen und Forschern in sogenannten »Experteninterviews« zu teilen, sondern es auch einer breiteren Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Der Picus Verlag hat meinen Vorschlag für ein Buch spontan angenommen und trotz Coronakrise an dem Projekt festgehalten, wofür ich dankbar bin.
Wien, im Dezember 2020
ASIF AUS AFGHANISTAN
MEIN SOHN SOLL ARBEITEN, STATT IN DER SCHULE ZU SITZEN
Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte Asif in einem Dorf in den Stammesgebieten der Paschtunen im Nordosten Afghanistans. Es ist eine schwer zugängliche, ländliche Gegend mit großen Gehöften. Asif kannte nichts anderes. Die Straßen waren schlecht, Strom gab es nicht und die Landwirtschaft wurde ohne Maschinen betrieben, auch die Kinder halfen mit. Geld war stets knapp.
Wenn die Männer davon sprachen, dass die Taliban wieder die Macht in der Region übernommen hatten, hörte er kaum hin, es betraf ihn nicht.
Asifs Vater hatte drei Ehefrauen und achtzehn Kinder sowie eine wachsende Schar Enkelkinder. Insgesamt lebten mehr als fünfzig Personen auf dem Hof. Als jüngster Sohn wurde Asif von allen gemaßregelt und geprügelt, so war das nun einmal der Brauch. Getan wurde, was der Vater anordnete. Selbst Asifs verheiratete Halbbrüder mussten sich dem Willen des Patriarchen beugen. Als Familienoberhaupt war der für das Wohlergehen der gesamten Großfamilie verantwortlich und setzte alles daran, sie wohlbehalten durch Krise und Geldnot zu manövrieren.
Eine richtige Schule hatte Asif nie besucht, die gab es bei ihnen nicht. Nur wenn es die Sicherheitslage erlaubte, ging er zeitweise in die Medrese, die Koranschule, im nächstgelegenen Dorf, lernte ein paar Koranverse und notdürftig lesen. Mehr brauchte man in seiner Welt ohnehin nicht. Für das Bestellen der Felder ist kein Bücherwissen notwendig. Wenn Bargeld im Haus fehlte, stellten sich die jungen Männer der Familie frühmorgens an bestimmten Kreuzungen an der Landstraße auf und warteten auf Auftraggeber. Dann kamen Bauherren, Großbauern oder Händler und suchten sich ein paar Arbeiter aus. Auch Asif hatte als Tagelöhner schon auf dem Markt Kisten geschleppt und beim Ziegelbrennen mitgeholfen.
Asif hatte einen älteren Bruder, der wäre jetzt schon 18. Doch als er so alt war wie Asif jetzt, wurde er von den Taliban entführt und zum Kämpfen gezwungen. Ein Jahr später war er tot. Seither lebte der Vater in ständiger Angst, dass Asif dasselbe widerfahren könnte, denn die Taliban waren ständig auf der Suche nach jungen Kriegern.
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