Ob Herr von Gundelstein wohl schon zu Abend gegessen hatte? Wahrscheinlich saß er wieder vor seinem Fenster und brütete vor sich hin. Kadence hatte oft beobachtet, wie er das tat, und sich genauso oft gefragt, was den alten Herrn wohl so beschäftigte.
Auf einmal zwang eine Weggabelung sie, anzuhalten. Sie setzte einen Fuß auf den Boden und sah sich um. Sie befand sich an der Grenze zum Gelände der Uniklinik, direkt gegenüber der Pathologie. Rechts war die Schranke zum Campus, nach links führte der Weg durch waldiges Gebiet zur Hauptstraße.
Kadence warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Erst zwanzig nach neun. Wie in Homburg um diese Zeit üblich, befand sich keine Menschenseele auf der Straße. Dafür war die Stadt jedoch berühmt für ihre niedrige Kriminalitätsrate: Nie las man von Morden oder Überfällen in der Zeitung.
„Wie sieht’s aus, Dicker, sollen wir die Abkürzung nehmen?“, fragte Kadence über ihre Schulter. Sie erhielt keine Antwort, doch wer schwieg, stimmte ja bekanntlich zu.
„Na gut, auf deine Verantwortung.“
Sie trat in die Pedale und lenkte ihr klappriges Rad in den Wald hinein. Die Straßenbeleuchtung war selbst für Homburger Verhältnisse bescheiden, doch Kadence hatte kein bisschen Angst. Schließlich war alles wie immer: Die schwarzen, eng stehenden Bäume, das leise Geflüster ihrer Äste im Wind, das zehnstöckige Gebäude der HNO, das zwischen ihnen aufragte wie ein quadratischer Betonriese, das schlecht beleuchtete Wartehäuschen der Bushaltestelle, direkt daneben die Bodenwelle … Moment, seit wann gibt es hier eine Bodenwelle?
„Hallo, hören Sie mich?“
Die Stimme klang dumpf und dünn, als würde jemand durch ein langes Rohr zu ihm sprechen. Gregor atmete tief ein, roch feuchtklare Nachtluft, Laub, Asphalt … und einen Hauch Jasmin.
„Was zum …“
Er blinzelte benommen und wollte sich aufrichten, wurde jedoch an den Schultern zurückgedrückt.
„Ganz ruhig, Sie sind bestimmt ohnmächtig geworden. Ich rufe jemanden, der Ihnen hilft.“ Gregor hörte kaum zu. Jetzt wusste er nämlich, was passiert war.
„Aach, verdammter Mist!“
Ohne die Person, die ihn geweckt hatte, zu beachten, setzte er sich auf und presste die Hände an seinen Kopf. Ihm war, als würde jemand im Takt seines Herzschlages mit einem Beil auf seinen Schädel einhacken.
Es geschah ihm nur recht. Was hatte er sich bloß gedacht? Wie hatte er so dämlich sein können, nach nur einem Monat ein weiteres Suchsignal auszusenden? Er hatte es aus purer Verzweiflung getan, weil ihm sonst nichts mehr eingefallen war. Nun hatte er den Salat: Seine Kräfte waren futsch und er hatte wer weiß wie lange bewusstlos auf der Straße herumgelegen – alle Viere von sich gestreckt wie ein Spanferkel auf dem Serviertablett. Hätten die Bergländer ihn so aufgefunden, hätten sie leichtes Spiel mit ihm gehabt. Es war reines Glück, dass sie …
„Geht es Ihnen gut?“
Gregor zuckte zusammen. Diese Stimme … Böses ahnend drehte er sich zu ihr um – und war gleich doppelt entsetzt. Zum einen, weil er die großen meerblauen Augen, die ihn sorgevoll anblickten, kannte. Zum anderen, weil er das Gesicht, das sich in diesen meerblauen Augen spiegelte, noch sehr viel besser kannte: das Gesicht des Gesichtslosen – sein eigenes Gesicht …
„Whooaa!“ Gregor sprang auf die Füße. Er torkelte ein paar Schritte rückwärts. Dann endlich kreuzte er die Arme vor dem Kopf. Doch es war zu spät: Die Pflegerin des Alten hatte ihn gesehen. Sie wusste, wie er in Wirklichkeit aussah. Auf der ganzen Welt wusste nur seine engste Familie, wie er in Wirklichkeit aussah!
Aber wie konnte das sein? Er hatte doch extra die Gestalt eines Joggers angenommen … Plötzlich fiel es ihm ein: Das Suchsignal! Es hatte ihm nicht nur sein Bewusstsein geraubt, es hatte ihm auch noch seine ganze Magie abgezapft, einschließlich derjenigen, die er brauchte, um seinen Tarnzauber aufrechtzuerhalten. So eine Sch…!
„Ich … äh, hole dann mal jemanden aus der Klinik …“
Das Mädchen war inzwischen aufgestanden. Sie trat ein paar Schritte rückwärts und stolperte über ihr Fahrrad, das scheppernd umfiel. Eine Kiste polterte auf den Boden, und ihr Inhalt miaute kläglich. Doch Gregor starrte nur auf das Mädchen. Er sah sie vor sich, wie sie in der Küche des Alten saß und Gemüse klein schnitt. Sie ist völlig harmlos , meldete sich sein Gewissen. Lass sie laufen.
Aber er konnte sie nicht laufen lassen. Einige Bergländer besaßen die Fähigkeit, aus menschlichen Erinnerungen Bilder abzurufen. Er musste seine Identität schützen. Es durfte keine Zeugen geben …
„Tut mir leid“, flüsterte er und ging auf das Mädchen zu. Ihre Augen weiteten sich. „Was haben Sie vor?“
Plötzlich sprang wie aus dem Nichts ein graues, fauchendes Fellknäuel zwischen Gregor und das Mädchen. Das Viech machte einen Buckel, und seine Augen glühten wie heiße Kohlen.
Gregor packte es an einer Speckfalte am Genick und warf es in die Büsche. Das Mädchen schrie: „Bert!“ Es weinte, und Gregor kam sich vor wie ein Monstrum, als er seine Hände nach ihr ausstreckte. Keine Zeugen! Keine Zeugen!
Er hatte sie noch nicht berührt, da fiel sie plötzlich in Ohnmacht und blieb regungslos auf dem Asphalt liegen. Gregor starrte verwirrt auf sie hinab. Dann spürte er den Wind.
Mit lautem Getöse wehte er durch die Baumkronen und stach wie mit spitzen Nadeln in seine Augen. Die Luft begann zu pulsieren – langsam erst, dann immer schneller, bis Gregor das Vibrieren in jedem einzelnen Knochen fühlte.
Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Na toll!
Er erschien aus dem Nichts, direkt vor Gregors Nase: Ein Schatten, zunächst nur knopfgroß, der auf Menschengröße wuchs und wie ein schwarzes Loch wahllos Materie ansaugte: Laub, Müll, Steine, Sand.
Es vergingen keine fünf Sekunden, da stand ein gut drei Meter großer Müllgigant vor Gregor und grinste ihn mit seinem Kaugummipapier-Mund hämisch an.
„Hallo, Greg“, dröhnte eine rasselnde Bassstimme. „Lange nicht gesehen. Du hättest mir ruhig Bescheid sagen können, als du Hamburg verlassen hast.“ Er wedelte tadelnd mit einem Zeigefinger, der aus einem dreckigen alten Kugelschreiber bestand. Gregor schluckte schwer.
„Ich … äh … hatte es leider eilig.“
„Nicht einmal eine Nachricht hast du mir hinterlassen. Ich bin wirklich enttäuscht.“ Der Müllhaufen schüttelte seinen Erdklumpen-Kopf, aus dem ein Büschel Gras herauswuchs. Die langen Halme fielen über seine winzigen schwarzen Kiesaugen wie bei einer besonders kessen Frisur.
Eine Schweißperle löste sich von Gregors Stirn und rollte kitzelnd über seine Schläfe.
Das war kein böser Traum: Vor ihm stand Hauptmann Tassud, der Schattengebieter Berglands. Er hatte Gregor eingeholt – und obwohl er gerade aussah wie eine Witzfigur, machte Gregor sich nichts vor: An seinen schlechten Tagen besaß Tassud mehr Zauberkraft in seinem kleinen Finger als die meisten Magier überhaupt . Gregor, der gerade sein zweites Suchsignal ausgesendet hatte, besaß zurzeit etwa so viel Zauberkraft wie der fette Kater hinten im Busch. Dass nun auch Tassud seine wahre Visage kannte, war somit sein geringstes Problem. Er war geliefert, und zwar so was von.
„Es war eine gute Zeit in Hamburg“, plauderte er los, um Zeit zu schinden. „Aber irgendwann hat man die Großstadt satt.“
Tassud brach in schepperndes Gelächter aus.
„Ach so, dem Herrn war nach Landluft, soso … Nun lass mal die Späße, Greg. Du hast dich heimlich davongemacht und geglaubt, du könntest mich abhängen. Hältst du mich wirklich für so bescheuert?“
„Aber ich habe dich doch abgehängt, oder nicht?“, wandte Gregor ein. „Sonst wärst du schon früher gekommen.“
Читать дальше