Kadences kleine, sommersprossige Nase erschien im Türrahmen. „Sie wollten … was rasieren?“
Balthasar winkte sie zu sich.
„Kommen Sie her. Setzen Sie sich.“
Kadence zögerte einen Moment, dann trat sie näher und setzte sich ihm schüchtern gegenüber. „Aber … es sah wirklich so aus, als ob …“
Sie trug immer noch ihre beigefarbene Frühlingsjacke, darunter Jeans und hohe Stiefel, die ihre schlanken Fesseln betonten. Sie sah im wahrsten Sinne des Wortes zum Anbeißen aus, aber davon durfte Balthasar sich nicht ablenken lassen. Was jetzt anstand, war:
„Schauen Sie mir in die Augen.“
Kadence schaute.
„Sehe ich so aus, als ob ich fähig wäre, mir ein Messer in die Brust zu rammen? Schon allein physisch.“
Kadence zögerte wieder, schüttelte dann aber den Kopf.
„Irgendwann werde ich sterben. So will es die Natur“, verkündete Balthasar pathetisch. Es war nur fair, sie darauf vorzubereiten. „Und wahrscheinlich wird es bald sein … Aber das ist schon in Ordnung, denn wissen Sie, ich habe sowieso keine Angehörigen mehr, und ich habe mein Leben gelebt. Es wird also Zeit, dass …“
„Nein!“, platzte Kadence heraus und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „So dürfen Sie nicht denken. Ich weiß, Sie sitzen in diesem Rollstuhl fest und glauben, das Leben hätte nichts mehr zu bieten … Sie haben keine Ahnung, wie oft ich das in der Klinik erlebt habe. Zuerst reden sie nur darüber und am Ende … am Ende …“
Zu Balthasars großem Erstaunen wurden ihre Augen feucht. Sie weinte. Wegen ihm! Aber wieso? Sie war doch nicht etwa in ihn …?
„Kadence … Sie machen sich wirklich Sorgen um mich?“
Während sie ihn seelenvoll ansah, wanderten Balthasars Augen auf die runden Erhebungen, die sich unter ihrer Jacke abzeichneten.
Nein! , rief er sich zur Ordnung. Dafür hatte er keine Zeit. Er musste schleunigst sterben, bevor diese ominösen Bergländer kamen und ihn womöglich wirklich abmurksten.
Andererseits, in der nächsten Viertelstunde würden die ja wohl kaum hier auftauchen. So viel Zeit blieb also noch, um eventuell …
„Natürlich mache ich mir Sorgen um Sie!“, rief Kadence leidenschaftlich. „Seit dem Tag unserer Begegnung sind Sie wie ein Großvater für mich. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich es gewagt habe, in der Klinik zu kündigen. Seitdem ich Sie kenne, fühle ich mich wieder wie ein Mensch und nicht wie ein kompletter Vollidiot! Schauen Sie …“
Sie erhob ihre schmalen Hände und hielt sie dem verdutzten Balthasar vor die Nase.
„Wie oft haben Sie mich in den letzten Wochen gebeten, für Sie Gemüse kleinzuschneiden? Anfangs hatte ich Angst, weil ich mich an scharfen Gegenständen grundsätzlich immer schneide. Aber diesmal dachte ich daran, dass Sie so dringend ein wenig zunehmen müssten und blutbesudeltes Essen Ihnen dabei kaum helfen würde – und siehe da, ich habe mich kein einziges Mal geschnitten.“
Balthasar versuchte sich an einem begeisterten Lächeln – es fiel wohl recht dünn aus.
„Das freut mich wirklich ganz … außerordentlich …“
Kadence strahlte ihn an.
„Sehen Sie, Sie tun mir gut. Und jetzt will ich Ihnen auch etwas Gutes tun!“
Balthasar schluckte. Ihn beschlich die Ahnung, dass das, was nun folgen würde, ihm nicht gefallen würde. „Sie tun doch schon genug für mich …“, murmelte er, doch Kadence fiel ihm ins Wort:
„Ich sage Ihnen, was ich tun werde: Ich ziehe bei Ihnen ein.“
„Was?“
„Das hatten Sie ja schon zu Beginn angesprochen, aber ich dachte, dass es unpassend wäre, weil wir uns ja gar nicht kannten. Aber jetzt glaube ich, ein wenig Gesellschaft würde uns beiden guttun. Sie sind schon viel zu lange alleine gewesen.“
Balthasar wollte etwas erwidern, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er war schlicht sprachlos.
„Keine Sorge, ich lasse Sie nicht im Stich.“ Kadence tätschelte seine Hand. „Meine beste Freundin hat morgen frei. Wenn ich sie lieb bitte, hilft sie mir bestimmt beim Umzug. Und wenn alles gut läuft, kann ich morgen Abend schon hier übernachten … ich glaube, am besten rufe ich Millie gleich an.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und flitzte aus der Küche. Balthasar blieb zurück, unfähig, sich zu rühren.
Diesmal steckte er wirklich im Schlamassel.
„Ich kann dich ja irgendwo verstehen …“ Millie ließ ihre langen, bestiefelten Beine von der Mauer baumeln, zog an ihrer Zigarette und blies eine Rauchwolke in die Nachtluft.
„Martin benimmt sich wie der letzte Arsch und du brauchst einen Tapetenwechsel. Klar. Aber musst du deshalb gleich bei irgendeinem wildfremden Opa einziehen?“
Kadence seufzte und rieb sich fröstelnd über die Oberarme. Obwohl offiziell Frühling war, kühlte die Luft nachts ganz schön ab, besonders hier oben auf dem Schlossberg – dies wurde aber durch die Aussicht auf die Stadt wieder wettgemacht. Wenn sie nichts zu tun hatten, kamen Kadence und Millie gerne hierher, um sich auf die Mauer der alten Festungsruine zu setzen und tiefsinnige Gespräche zu führen. Gespräche, die Kadence stets aufzumuntern pflegten – normalerweise …
„Ich weiß ja, dass es verrückt klingt …“, murmelte sie, „aber … keine Ahnung, mein Gefühl sagt mir, dass es richtig ist. Herr von Gundelstein ist so ein netter Mann.“
„Und vor allem kann er nicht davonlaufen wie die anderen Männer, die bisher mit deinem Helfersyndrom beglückt wurden.“
Diese Bemerkung versetzte Kadence einen Stich, doch sie schwieg.
„Du bist wirklich zu gut für diese Welt, Kady. Wäre das Leben gerecht, wären die Leute dir für deine Hilfsbereitschaft dankbar, aber so funktioniert das leider nicht. Menschen, und speziell die meisten Männer, respektieren einen nur, wenn man ihnen mindestens einmal richtig in die Weichteile tritt.“
„Ich kann nicht glauben, dass alle so sind“, brummte Kadence. „Herr von Gundelstein ist ein freundlicher alter Gentleman, aber er ist eindeutig selbstmordgefährdet und außerdem …“
„… ganz genauso wie alle anderen, glaub mir. Hast du nicht sein Gesicht gesehen, als wir vorhin beim Einräumen deinen monströsen Erste-Hilfe-Koffer angeschleppt haben?“
Millie machte die Stirn kraus, wie Herr von Gundelstein es öfter tat, und zog eine Schnute, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Obwohl Kadence ein wenig verärgert war, prustete sie los, weil sie seinen Gesichtsausdruck so gut traf.
„Ich glaube nicht, dass ihm der Gedanke gefällt, von dir wiederbelebt zu werden … zumindest nicht auf diese Weise.“
Millie grinste anzüglich, und Kadence verdrehte die Augen. Mochte ja sein, dass andere Männer so dachten. Aber doch nicht Herr von Gundelstein!
„Mir ist kalt“, murrte sie unwirsch. „Lass uns gehen.“
Die beiden verließen die Mauer, setzten sich in Millies alten schwarzen Ford Sierra und fuhren über eine Straße, die sich durch den Wald den Berg hinabschlängelte, in die Stadt zurück.
Millie setzte Kadence vor dem Schwesternwohnheim neben dem Uni-Campus ab.
„So, jetzt sind nur noch dein narkoleptischer Kater und das Fahrrad übrig. Meinst du, du packst das alleine?“
Kadence nickte. „Das ist kein Problem. Vielen Dank für deine Hilfe. Und jetzt fahr, sonst macht dein Freund sich noch Sorgen.“
Sie schlug die Tür hinter sich zu und wartete, bis die Rücklichter des Wagens hinter einer Kurve verschwunden waren. Dann schleppte sie sich zu Fuß in den fünften Stock hinauf.
Bert, ein prächtiger Kartäuser Kater, schlief wie gewohnt friedlich eingerollt auf dem Fensterbrett. Kadence hob ihn vorsichtig in die Höhe, steckte ihn in eine Katzenbox und verließ zum letzten Mal ihr ungewohnt leeres Apparment. Mit Bert auf dem Gepäckträger schlug sie den Weg Richtung Krautstraße ein.
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