„Sie haben wohl viel für die beiden getan.“
„Ach, Bert ist nicht sehr anspruchsvoll. Und Martin … tja …“
Kadence überlegte. Was konnte sie über Martin sagen?
Eigentlich kaum etwas. Dabei kannte sie ihn schon über ein Jahr. Sie sah ihre erste Begegnung vor sich, als wäre es erst gestern gewesen …
Damals hatte Martin als Assistenzarzt in der Psychiatrie angefangen, auf derselben Station, wo auch Kadence arbeitete.
„Oho!“, hatte Millie, ihre Kollegin und beste Freundin, gerufen, als sie seine stattliche Statur erblickten. „Ein Mister Anabolikum! Herr, beschütze uns …“
Kadence konnte ihren Hohn nicht teilen. Zwar hatte auch sie keine Vorliebe für Muskelprotze, doch Martin war … irgendwie nett. In den darauffolgenden Wochen nahm er sie oft beiseite, scherzte mit ihr und veräppelte jeden, der gemein zu ihr war. Bald fühlte sie sich in seiner Gesellschaft so sorglos und unbeschwert, dass sie am liebsten den ganzen Tag bei ihm gewesen wäre. Und ab da ging es mit ihr bergab.
Wenn Martin in der Nähe war, schien in Kadences Kopf ein Zahnrad zu blockieren: Sie wurde fahrig, ließ Nachttöpfe fallen, verwechselte Blutröhrchen und stach sich bei der Blutzuckerkontrolle in den eigenen Finger. Und als Martin ihr einmal vom Ärztezimmer aus zuzwinkerte, überfuhr sie mit einem leeren Patientenbett versehentlich Oberschwester Brunhilde.
„Kadence Isberg! Jetz’ hann isch aber die Faxen dicke! Du Dummbeidel wirschd uns noch alle umbringe!“, echauffierte sich die Oberschwester, während sie ihren breiten Hintern aus dem Wäschewagen befreite.
„Gibt es ein Problem, Mädels?“
Martin trat an die vor Bestürzung erstarrte Kadence heran und legte beschützend die Hand auf ihre Schulter. Bei seinem Anblick plusterte sich Oberschwester Brunhilde auf wie eine wütende Pute.
„Misch du dich da gefälligst net ein, Jungsche! Des isch unsre Saach!“
„Martin … ist schon gut …“, stammelte Kadence mit glühenden Wangen. Am liebsten wäre sie selbst in den Wäschewagen gekrabbelt.
„Nein, das hier ist alleine meine Schuld“, versicherte Martin ritterlich und drückte ihre Schulter, während er mit der anderen Hand das Bett lässig aus dem Weg schob.
„Ich habe Kadence abgelenkt, es tut mir sehr leid. Bitte schimpfen Sie nicht mit ihr.“
„Ähs hat sisch aber net ablenke zu lasse! Passen Sie nur uff, die wird uns alle umbringe! Fuffzehn Beschwerden alleine diesen Monat! Fuffzehn!“
„Nun seien Sie doch nicht so streng. Jeder hat mal eine schlechte Phase. Stimmt’s, Kady?“
An diesem Tag gingen sie das erste Mal miteinander aus und wurden sofort ein Paar.
Martin war für Kadence der sprichwörtliche strahlende Ritter in weißem Kittel. Sie hätte alles, und zwar wirklich alles für ihn getan. Wenn er abends etwas mit ihr unternehmen wollte, ging sie mit, egal, wie müde sie war. Als er eine schwere Magen-Darm-Grippe hatte, wachte sie drei Nächte lang an seinem Bett und steckte sich schlimmer an als er. Sie kochte für ihn, putzte seine Wohnung, fütterte seinen Kater und verteidigte ihn, wann immer jemand ein böses Wort über ihn verlor.
Das schloss auch Millie mit ein.
„Ich will dich ja nicht nerven“, begann diese, als sie sich eines Abends zum Feierabend umzogen. „Aber ich habe deinen Martin vorhin mit der blonden Neurologin in der Cafeteria sitzen sehen, und er hatte seine Stielaugen eine Etage tiefer als es mir gefällt.“
„Vielleicht hat er auf ihr Namensschild geschaut“, murmelte Kadence, während sie ihre Turnschuhe band – und einen der Schnürsenkel abriss.
Millie knabberte an ihrem kugelförmigen Unterlippenpiercing. „Kady … sei mir nicht böse, aber ich schwöre, der geht fremd.“
„Unsinn, so etwas würde er nicht tun.“
Plötzlich knallte neben Kadences Kopf die Spindtür zu.
„Verdammt, ich kann das nicht länger mit ansehen! Du bist dreiundzwanzig und könntest jeden haben! Doch dein Leben dreht sich nur um einen Typen, der sich durch die halbe Klinik vö…“
„Emilia!“
Millie schüttelte ihre blauschwarze Mähne und schnaubte.
„Okay. Dann sag mir mal, wann er das letzte Mal etwas für dich getan hat. Wann hat er dir Blumen mitgebracht? Oder ist mit dir irgendwohin gegangen, wo du hinwolltest?“
„Er lernt eben für seine Promotionsprüfung, Millie. Das ist eine wichtige und kritische Phase. Als seine Freundin muss ich darauf doch Rücksicht nehmen …“
„Dass ich nicht lache. Der Arsch nutzt dich nach Strich und Faden aus!“
Nun, im Nachhinein musste Kadence ihrer Freundin zugestehen, dass sie wohl mehr Menschenkenntnis besaß als sie. Wobei es in den letzten Wochen nicht einmal ihr selbst entgangen war, diese feine Distanz, die sich zwischen ihr und Martin gebildet hatte wie eine durchsichtige Wand …
Eines Tages erhielt sie eine SMS von ihm:
„Ich denke, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen “, schrieb er. „Du bist einfach zu gut für mich oder ich nicht gut genug für dich … Tut mir leid. Bert darfst du aber behalten. Der dicke Pastetenvernichter mag dich sowieso lieber als mich, und vielleicht tröstet er dich ein wenig. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, du findest dein Glück. Martin.“
Damit war das Thema für ihn erledigt – einfach so. Kadence hatte bis heute nicht begriffen, was da eigentlich passiert war. Aber langsam formte sich eine dunkle Ahnung in ihr.
„Ich weiß nicht“, murmelte sie, noch immer halb in Erinnerungen versunken. „Irgendwie schien er von mir enttäuscht … umso mehr, je besser er mich kennenlernte …“
Wie bitte? , donnerte Millie in ihrem Kopf. Bist du jetzt völlig übergeschnappt?
Kadence seufzte. Du verstehst das nicht, Millie. Ich wurde in jeder meiner bisherigen Beziehungen verlassen. Das Einzige, was diese Beziehungen gemeinsam hatten, war ich, also muss es irgendwie an mir liegen. Das ist doch ganz logisch.
Ein Räuspern holte Kadence in die Realität zurück – diesmal endgültig. Sie saß immer noch im stillen, lichterfüllten Wohnzimmer Herrn von Gundelsteins. Seine grauen Augen blickten in ihre – voller Mitgefühl und Ruhe, doch gleichzeitig derart durchdringend, als könnten sie in ihre Seele schauen.
„Verzeihen Sie …“, begann er sanft und faltete die knorrigen Hände im Schoß. „Ich hoffe, ich bin nicht indiskret, aber … gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie momentan allein leben?“
Kadence schluckte hart. Jetzt bloß nicht wieder heulen! Die vergangene Woche war schon schwer genug gewesen: Martin jeden Tag in der Arbeit zu sehen, mitzuerleben, wie er sich von ihr abwandte, um mit der neuen Praktikantin zu flirten …
„Ja“, krächzte sie. „Ich bin allein.“ So allein wie nie zuvor …
Herr von Gundelstein kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr ein gefaltetes Baumwolltaschentuch, das sie dankbar annahm. Sie schnäuzte sich geräuschvoll.
„Entschuldigung, Sie haben selbst genug Probleme. Ich weiß gar nicht, weshalb ich Sie so vollschwatze.“
„Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Ich höre gerne zu.“
Die hellgrauen Augen lächelten freundlich … und wie von Zauberhand fühlte Kadence sich besser.
„Herr von Gundelstein …“, hörte sie sich sagen.
„Fräulein Isberg?“
„Sie hätten nicht zufällig Interesse an einer Krankenschwester?“
Der alte Herr machte große Augen. „Sie meinen, Sie wollen hier einziehen?“
Kadence stutzte. „Was? Nein, so habe ich das nicht gemeint! Ich … dachte, ich könnte einfach jeden Tag herkommen und ein bisschen für Sie kochen, den Haushalt erledigen und dabei nach Ihrer Gesundheit sehen.“
Herr von Gundelstein wirkte skeptisch.
„Hm … und was ist mit Ihrer momentanen Anstellung? Da gibt es doch bestimmt eine Kündigungsfrist?“
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