Der Alte legte den Kopf schief und blinzelte wie eine Eule.
„Hoher Orden? Nie davon gehört.“
Gregor rutschte die Sonnenbrille von der Nase. „Du kennst nicht den Hohen Ord…? Hör zu, ich habe weder Zeit noch Lust dir hier Nachhilfeunterricht zu geben. Es ist ganz einfach: Ich habe eine Frage an dich und ich erwarte, dass du sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortest!“
Der Alte zuckte mit den Schultern. „Wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
Gregor nahm auf einem Sessel Platz, der für seinen muskulösen Hintern eigentlich zu eng war, und beugte sich vor.
„Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber es liegt Ärger in der Luft: Silvestria steht an der Schwelle zum Krieg mit Bergland, und wenn wir nicht aufpassen, wird Technika mitreingezogen.“
„Technika?“
„Diese Welt hier!“, raunzte Gregor ungeduldig. „Die nicht magische Welt. Im Gegensatz zu unserer Welt Itthona jenseits des Spiegels … sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas?“
Der Alte murmelte etwas Beleidigtes in seinen nicht vorhandenen Bart.
„Der Punkt ist“, fuhr Gregor fort, „hier in Homburg befindet sich eine mächtige Waffe, die uns Silvestrianern gehört. Wie sie aussieht oder woraus sie besteht, weiß niemand. Aber es steht in unseren Chroniken, dass einst Arawin, der mächtigste Weiße Weise Silvestrias, sie vor über zwanzig Jahren hier versteckt hat. Meine Frage an dich lautet nun: Ist dir, seitdem du hier lebst, irgendetwas Bemerkenswertes aufgefallen? Etwas, das auf den Aufenthaltsort unserer Waffe hindeuten könnte? Es geht um das Leben tausender Unschuldiger!“
Der Alte schluckte hörbar.
„Ich … habe vor einigen Wochen eine Art Vibrieren verspürt.“
Gregor nickte.
„Als ich hier ankam, habe ich ein Suchsignal ausgesendet. Ist Es irgendwo in der Nähe, interferiert Seine Aura – das ist eine permanente Schwingung, die alle magischen Dinge und Wesen aussenden – mit dem Signal und wird verstärkt.“
Der Alte brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Er tupfte sich mit einem Stofftaschentuch über die faltige, staubtrockene Stirn.
„Aber, wenn das so gut funktioniert, wieso machst du es dann nicht einfach noch einmal? Dieses Signal aussenden?“
Gregor knurrte. „Leider kostet es sehr viel Energie. Ich kann es nur einmal alle zwei Monate machen …“
„Und du hast keinen Kollegen, der dir bei der Suche hilft?“
„Meine Schwester ist Mitglied der königlichen Leibgarde und muss daher im Palast bleiben“, murrte Gregor, der sich allmählich wirklich im Stich gelassen fühlte.
Der Alte schnalzte mit der Zunge. „Dann würde ich an deiner Stelle deine Energie nicht bei mir vergeuden. Ich habe nichts, und wie du selbst schon bemerkt hast weiß ich auch nichts.“
„Nichts da!“ Die Gemüsestückchen machten wieder Luftsprünge, als Gregor mit der Faust auf den Wohnzimmertisch schlug. „Irgendeine hilfreiche Fähigkeit wirst doch wohl selbst du haben! Oder willst du mir allen Ernstes erzählen, du sitzt hier nur herum und lässt dich durchfüttern?“
„Mein Lebensstil ist alleine meine Angelegenheit“, erwiderte der Alte frostig und zog den Morgenmantel enger um seinen Körper. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich ab jetzt mit deinem Unsinn in Ruhe lassen würdest. Ich habe schon genug Kriege überlebt, um zu wissen, dass man völlig von Sinnen sein muss, um bei einem solchen Blödsinn mitzumachen. Da ich weder dein Silvestria noch dieses Bergland kenne, fühle ich mich auch nicht versucht, etwas an dieser Einstellung zu ändern.“
Gregor war, als würde ein riesiger Ballon in ihm anschwellen und seine Brust jeden Moment zum Platzen bringen. Was für ein sturer alter Narr!
„Also schön, wie du willst!“, versetzte er, während er aufstand. „Aber eines lass dir gesagt sein: Ich mag der Erste sein, der gekommen ist, aber ich bin bestimmt nicht der Letzte! Früher oder später werden die Bergländer über dich stolpern, und mit diesen Typen ist nicht gut Kirschen essen … am allerwenigsten mit ihrer Königin!“
„Danke für die Warnung, ich kann auf mich aufpassen.“
„Schön!“
Gregor war so wütend, dass er sich nicht die Mühe machte, zur Tür zu gehen. Er stieß einfach das Fenster auf und sprang hinunter, ohne sich noch einmal nach dem Greis umzudrehen.
Federnd fing er seinen Fall ab und erschreckte ein Großmütterchen, das auf der anderen Straßenseite ihren Dackel Gassi führte, halb zu Tode. Es war ihm egal. Er war bedient.
Wenn der General wollte, dass er Erfolg hatte, sollte er ihm eine Einheit schicken, die dieses verflixte Homburg von oben bis unten durchkämmte. Wenn ich doch wenigstens wüsste, wonach ich suche! Es half alles nichts, er musste sich beruhigen, den Kopf freibekommen. Vor allem aber musste er aus dieser fremden Gestalt raus. Er war schon viel zu lange nicht mehr er selbst gewesen …
Was für ein unverschämter Bengel!
Noch nie in seinem Leben war Balthasar derart beleidigt worden. Da bricht der Kerl einfach mir nichts, dir nichts in seine Wohnung ein und lässt ihn wie einen Idioten dastehen.
„Silvestria, Bergland, Krieg. Pah!“
Die ganze Nacht saß Balthasar in seinem Rollstuhl, starrte durch das offene Fenster auf die blasse Mondsichel und grübelte über seinen magischen Besuch. Ob diese Bergländer tatsächlich kommen und ihn mit ihrem Unsinn belästigen würden? Was waren das eigentlich für Leute? Balthasar fröstelte bei dem Gedanken, dass irgendwelche haarigen Ungeheuer bei ihm eindringen und Erklärungen fordern könnten, die er – trotz seiner großen Weisheit – zu geben nicht imstande war.
Als die Morgensonne über den Horizont lugte, hockte Balthasar immer noch am Fenster und grübelte. Irgendetwas musste geschehen. Er konnte zum Beispiel versuchen, dafür zu sorgen, dass der Katzenbengel wiederkam, und ihm ein Tauschgeschäft anbieten: Seine, Balthasars, wertvolle Hilfe bei der Suche nach seinem Dingsbums gegen Information über diese andere, magische Welt. Wie er seinen Teil des Geschäftes erfüllen sollte, war Balthasar zwar schleierhaft, aber Bereitschaft zeigen konnte er allemal. Oder er entschied sich für die Alternative …
Ein letztes Mal sog Balthasar die taufrische Morgenluft tief in seine Lungen. Dann wendete er seinen Rollstuhl und fuhr geschwind in die Küche. Wie sollte er es diesmal anstellen? Sich erdolchen? Er öffnete eine Schublade und zog ein langes Fleischmesser heraus. Die ersten Sonnenstrahlen ließen die scharfe Klinge goldgelb funkeln.
Es war eine Möglichkeit. Andererseits würde es ohne Blut sehr unglaubwürdig wirken. Also vielleicht doch der gute alte Schlaganfall?
„Herr von Gundelstein, Sie sind schon auf?“
Hätte Balthasars Herz noch geschlagen, hätte es in diesem Moment ausgesetzt. Unwillkürlich presste er die Hand auf die Brust. „Kadence! Wie können Sie mich so erschrecken?“
Das Mädchen riss die Augen auf. „Oh, das tut mir leid! Ich habe mich nur gewundert, dass Sie … ooh!“
„Was ist denn?“
„Sie … Sie haben da ein M…M…Messer … in Ihrer B…B…Brust. Nicht bewegen! Ich rufe den Notarzt!“
Sie wirbelte herum und stürmte mit wehenden Haaren aus der Küche. Verdutzt blickte Balthasar an sich hinunter. Tatsächlich, das Fleischmesser steckte gut fünf Zentimeter tief in seiner Brust – und zwar genau auf Herzhöhe. Ups.
„Kadence, warten Sie, keine Polizei! Ich meine, keinen Arzt, bitte, mir geht es gut!“ Mit einem beherzten Ruck zog Balthasar das Messer heraus. Wenn ihm jetzt nichts wirklich Gutes einfiel, war er erledigt.
„Schauen Sie her, da steckt kein Messer!“, rief er Kadence hinterher. „Ich hatte es mir nur unter den Arm geklemmt, um mir … äh … die Achseln zu rasieren.“
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