„Und wann wurden die Philippinen unabhängig?“ fragte Marian.
„Das war erst im Jahre 1946 unter General Rodas, aber der Nationalfeiertag ist der zwölfte Juni. An diesem Tag rief Emilio Aguinaldo im Jahre 1898 die Unabhängigkeit aus, obwohl das Land noch gar nicht unabhängig war und von den Amerikanern kolonialisiert wurde.“
Nachdem sie eine Weile schweigend die Altstadt erkundet hatten, sagte Diwata plötzlich: „Ich zeige dir heute das koloniale Erbe der Spanier.“ Hand in Hand schlenderte sie mit ihm durch Intramural zur ältesten Kirche der Stadt: San Augustin . Marian bestaunte den spanisch-mexikanischen Barockstil und bewunderte die achtundsechzig Chorstühle aus dunklem Olivenholz sowie die mit einer geschnitzten Tropenlandschaft verzierte Kanzel. „Guck mal“, flüsterte Diwata und zeigte auf ein Grab. „Hier liegt Legazpi begraben.“
„Wer?“, fragte Marian mit einem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck.
„Na hör mal, Eroberer Miguel Antonio Legazpi, mit dessen Unterwerfung der Inselbewohner die spanische Kolonialherrschaft begann“, antwortete Diwata überrascht. „Hast du das schon wieder vergessen? Entweder du hörst nicht zu oder hast ein Gedächtnis wie ein Sieb“, lachte sie.
Die Spuren der spanischen Kolonialzeit führten Marian und Diwata zur Casa Manila , der originalgetreuen Rekonstruktion einer Residenz des 19. Jahrhunderts. Auf dem Plaza San Luis setzen sie sich in eines der ins alte Gemäuer gebauten Cafés und lauschten der Musik eines Kammerorchesters. Marian nahm Diwatas Hände und schaute in ihre braunen Augen. Er empfand eine große Dankbarkeit, dass sich sein Leben an der Seite einer solch gebildeten und attraktiven jungen Frau auf wundervolle Weise zu verändern schien. Er wollte nicht wissen, ob und wie lange die sich langsam entfaltende Liebe dauern würde. Diwata hingegen kniete in der Kathedrale von Manila nieder und betete, dass Gott sie von Marian niemals mehr trennen möge.
Manila -Chinatown an einem frühen Freitagnachmittag im März 1991.Sie liefen Hand in Hand durch das pulsierende Leben der chinesischen Gemeinde, besuchten Antiquitäten-, Juwelier- und Kräuterläden mit exotischen Waren und besichtigten Teehäuser. Ein ohrenbetäubender Lärm umgab sie. Geschäftiges Treiben. Es roch nach köstlich gewürztem Essen, süßsaure Dämpfe strömten aus den Garküchen. Straßenmärkte lenkten vom dröhnenden Verkehr der Rizal-Avenue ab. Eine trockene Hitze lag über der Stadt. Sie betraten hungrig ein kantonesisches Restaurant. Diwata bestellte auf Chinesisch.
„Chinesisch sprichst du auch?“, wunderte sich Marian.
„Ja, ein bisschen. Ich habe ein halbes Jahr in Peking gelebt.“ Marian tat so, als gönne er der Freundin auch diese bereichernde Erfahrung. Innerlich erblasste er aber vor Neid. Wie gern wäre auch er viel in der Welt herumgekommen.
Der Kellner servierte typisch kantonesische Gerichte wie Dampfeier, gebratenen Reis, süß-saures Schweinefleisch, eine große Auswahl an Nudelgerichten und Meeresfrüchten sowie Huhn mit Zitronensoße.
„Seit wann leben Chinesen in Manila?“, fragte Marian neugierig.
„Seit sehr langer Zeit. Sie sind als Händler ins Land gekommen und ließen sich vor allem im Dorf Binundok nieder. Die Spanier zeigten ihnen gegenüber ihr doppeltes Gesicht. Die spanischen Besatzer konnten Chinesen aus wirtschaftlichen Gründen nicht entbehren, zwangen sie aber andererseits zum Christentum.“
„Wurden Chinesen von den Spaniern verfolgt?“
„Leider ja. In den Jahren 1603, 1639 und 1762 kämpften viele gegen ihre Unterdrückung. Die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, viele wurden vertrieben. Die heutigen Chinesen kommen vor allem aus Guangzhou. Sie leben relativ friedlich neben den Nachkommen reicher philippinisch-spanischer Mestizen und Ausländern.“
„Seltsam“, entgegnete Marian, „dass der Mob erfolgreiche Menschen nicht erträgt. Es ist ja allgemein bekannt, dass die deutschen Juden ein ähnliches Schicksal ertragen mussten. Man denke nur an die vielen Pogrome und Verfolgungen. Viele Juden waren erfolgreiche Händler und wurden deshalb gleichermaßen beneidet und gehasst.“ Es folgten Minuten des Schweigens. Plötzlich sagte Marian mit nachdenklicher Stimme: „Rassistische Vorurteile gibt es leider immer und überall. Manch ein Dummkopf verbreitet heute wieder antisemitische Ressentiments oder warnt vor der so genannten gelben Gefahr.“
Beim Essen lief beiden das Wasser im Munde zusammen. Es war ein Gaumenschmaus. Lange sprachen sie kein Wort.
„Weißt du“, sagte Marian plötzlich. „In einem ganz fremden Land und völlig anderen Kulturkreis wie diesem muss man sich seine neue Lebenswelt erst ertasten, erfühlen, erschnuppern und erschmecken.“
„Und ervögeln,“ erwiderte Diwata zynisch.
Das traf. Marian verstand sofort die sarkastische Bemerkung seiner Freundin. Er wurde rot und sagte kein Wort. Diwata empfand ihre Anspielung auf den Sextourismus ihres Landes keineswegs als taktlos. In ihrer typisch offenen Art wollte sie provozieren. Außer Marian saß wohl niemand im Restaurant, der Deutsch verstand. Wären dort Deutsche gewesen, hätte sie sich auch nicht geschämt.
„Ich weiß, dass du anders bist. Du wirst niemals mit solchen Frauen verkehren.“ Sie betonte solchen Frauen mit einem Gesichtsausdruck größter Verachtung. „Selbst diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – für lächerliches Geld ihren Körper an Fremde verkaufen, sehen oft sehr gut aus“, fügte sie mit herablassendem Gesichtsausdruck hinzu. „Doch ihre Schönheit ist nur eine Fassade. In ihrem Innern sind sie müde und leer. Sex ist für sie nur ein Beruf wie jeder andere, den sie oft mit Krankheiten bezahlen. Ich hingegen werde dir ein Feuer zeigen, was du niemals vergessen wirst. In dieser Welt wahrer Liebe wird es nur uns geben. Ich werde alle Frauen, die du begehrst, verkörpern. Wir werden Königin und König sein.“
Nach dem Essen fuhren sie außerhalb der Mauern Intramuros mit einer Kaleza , einer traditionellen bunten einachsigen Kutsche, deren Klappern der Pferde das spanische Ambiente betonte. Diwata schmiegte sich fest an ihren Geliebten. Sie fühlte sich fast wie auf einer romantischen Hochzeitsfahrt.
Abends saßen sie auf einer Bank an der Bucht von Manila. Ein betörender Sonnenuntergang malte den magischen Ort in prächtigen rötlichen Farben, die von Orange bis Scharlachrot reichten und beide vergessen ließen, dass sie in einem Moloch waren. Beiden gelang es, sich vorzustellen, was die Keimzelle dieses urbanen Ungeheuers einmal war: eine kleine Tropensiedlung am Großen Ozean, ein Malaien Dorf des 5. Jahrhunderts nach Christus an der fast kreisrunden Bucht. In diesem Meerbusen, der noch heute einen der besten Naturhäfen der Erde und ein fesselndes Panorama bietet, überfiel Diwata und Marian zum ersten Mal jene Leidenschaft, die im Laufe ihrer Liebe von Tag zu Tag stärker werden sollte. Sie fragte ihn: „Warum hast du dich ausgerechnet für Manila entschieden und nicht für New York, Sidney, Melbourne?“
Sie blickte ihn lange mit ihren großen Augen an. Er antwortete nicht. Sie schwiegen.
„Schließ die Augen“, sagte sie. Er tat, was sie sagte. Unvermittelt spürte er, wie sich ihre Lippen berührten und wie ihre Zungen miteinander verschmolzen. Sie küsste ihn mit einer solchen Zärtlichkeit und Leidenschaft wie keine andere Frau, nicht einmal Lesley. Diese Leidenschaft elektrisierte ihn, als ob sich Götterblitze seines Körpers und seiner Seele bemächtigten.
Die Nachtwar hereingebrochen. Beide schliefen friedlich auf der Bank in einer der gefährlichsten Städte der Welt. Ein Engel schien sie zu beschützen. Im Morgengrauen erwachte Marian und streichelte Diwatas lange schwarze Haare. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schultern gelegt. Träumte er immer noch? Auf einmal wusste er, dass er mit seiner Geliebten den Traum bis zu seiner Vollendung erleben wollte. Diwata war keine Frau, sondern eine Fee, ein im wahrsten Sinne des Wortes göttliches Wesen, zu schön und zu zerbrechlich für die Widrigkeiten der Wirklichkeit. Würde ihre Liebe bis in alle Ewigkeit andauern? Würde das Feuer ihrer Leidenschaft niemals enden?
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