„Und dann bist du eines Tages von zu Hause abgehauen?“, fragte Diwata mit Neugier.
„Ja, das stimmt. Es war kurz nach meinem Abitur. Nach einem lautstarken Streit mit meinen Eltern packte ich meine Koffer und verschwand.“
„Für immer?“, fragte Diwata bestürzt. Ihre tiefen schwarzen Augen zeigten Anteilnahme.
„Was heißt für immer? In jenem Augenblick, als ich die Tür hinter mir zuknallte, dachte ich zumindest daran, nie wieder zu meinen Eltern zurückzukehren.“
„Und jetzt?“, wollte Diwata wissen.
„Das ist eine schwierige Frage“ seufzte Marian. „Die Antwort bleibt offen. Im Augenblick denke ich jedenfalls nicht daran, nach Hintertupfingen zu reisen und meine Eltern zu besuchen.“
Aus Taktgefühl stellte Diwata keine weiteren Fragen zu Marians Eltern.
„Wohin bist du dann gefahren?“, wollte sie stattdessen wissen. Ihr Interesse war aufrichtig.
„Nach Berlin, der einzigen deutschen Stadt, die in einem Atemzug mit London oder Paris verglichen werden kann“ gestand Marian. „Zumindest meiner Meinung nach. Die Zeit in Berlin war zunächst sehr hart. Ich hatte ja kaum Geld und musste mich mit Gelegenheitsjobs wie Nachtportier, Tellerwäscher, Discjockey und als Datentypist durchbeißen. Von irgendetwas musste ich ja leben und meine Miete bezahlen. Ich hatte keine besonderen Ansprüche und konnte keine großen Sprünge machen. Doch für die Berliner Clubs und günstigen Restaurants reichte mein Geld allemal. In Berlin entdeckte ich meine Liebe für Kunst, Geschichte, Theater und Musicals. Ich besichtigte viele Museen und ging oft ins Theater.“
„Allein?“, fragte Diwata verwundert.
„Du bist aber neugierig“, lachte Marian. „Nein, natürlich nicht. Ich wohnte in einer netten Wohngemeinschaft, zusammen mit Maja, einer Malerin, Tatjana, einer russischen Kunststudentin und Uwe, der als Sozialarbeiter in Berlin Kreuzberg, einem sogenannten sozialen Brennpunkt, arbeitete. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, wie wunderbar es ist, unter weltoffenen und toleranten Menschen zu leben. Auf mich traf Goethes Spruch Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein wortwörtlich zu. Später schrieb ich mich an der Humboldt Universität ein und begann dort mein Studium der Betriebswirtschaft.“
„Wolltest du für immer in Berlin bleiben?“ Ihre Frage klang interessiert.
„Nein, das nicht“ antwortete Marian. „Ein weit gereister Student überzeugte mich auf einer Studentenparty davon, im Ausland zu leben. Da ich Betriebswirtschaft studierte und später in einer Bank arbeiten wollte, fasste ich den Entschluss, in London mein Studium fortzusetzen. Ich war begeistert von dieser Stadt und wollte während meines Studiums dort bleiben.“
„Warum hast du dich mit deinem Interesse für Kunst und Musik ausgerechnet für ein Studium der Betriebswirtschaft entschieden?“, fragte Diwata verwundert.
„Ich glaube, dass man finanzielle Sicherheit im Leben braucht, egal was man vorhat“, sagte Marian nüchtern. „Ich finde, dass sich die Welt der Zahlen und die Welt der Kunst nicht ausschließen. Sogar Mick Jagger hat Betriebswirtschaft studiert.....“
„Und sein Studium abgebrochen“, unterbrach ihn Diwata. „Das ist richtig. Doch seine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse haben ihm sicherlich genutzt.“
Diwata gefiel, was Marian sagte. Auch sie war der Ansicht, dass man im Leben Träume haben müsse, zugleich jedoch auch ein solides Fundament. Sonst platzt jeglicher Traum.
„In der Freizeit habe ich meinen Berliner Lebensstil fortgesetzt“, erzählte Marian. „Museen, Theater, Musicals, Kneipen. Leider blieb mir dafür nur am Wochenende Zeit.“
„Hattest du eine Beziehung?“, fragte Diwata neugierig.
„Ja, da war eine Engländerin, deren Mutter Inderin war.“
Marian vermied es, ihren Namen Lesley Bhattacharya Smith zu nennen.
„Und was war mit ihr?“
„Wir wollten uns zuerst verloben und dann heiraten, doch dann merkten wir, dass wir nicht zueinander passten“, log Marian zum zweiten Mal. Er sprach mit dem Talent eines Schauspielers, der sich so sehr mit seiner Rolle identifiziert, dass er Fiktion und Realität nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Schließlich wollte er seine Romanze nicht beenden, bevor sie begonnen hatte. Sie hatte nicht den geringsten Verdacht und fragte auch nicht nach. Schließlich sprach sie selbst nicht gerne über ihre gescheiterte Beziehung mit Isagani.
Hand in Hand spazierten sie durch den Ayala Park von Makati. Ihre konservativen Landsleute dachten sicher, dass sie ein Paar wären. Sie hatte ohne jeden Zweifel schon Gefühle für den Deutschen mit blondem, lockigem Haar, doch sie wollte nichts überstürzen. Was er über seine Herkunft erzählt hatte, gefiel ihr natürlich nicht. Welche Schuld hatte Marian jedoch? On ne choisit pas ses parents singt Maxime Le Forestier in der ersten Strophe seines bewegenden Liedes Né quelque part. Ganz richtig: Man sucht seine Eltern nicht aus. Peinlichen Eltern läuft man davon. Genau das hatte Marian getan. Sie empfand eine tiefe Bewunderung. Das war gewiss nicht einfach für ihn gewesen. Er hatte sich Dinge erkämpfen müssen, die für sie selbstverständlich waren: Kultur, Kunst, Weltoffenheit. Es war ihm gelungen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit ihm geschehen wäre, wenn er sein kultur- und seelenloses Kaff niemals verlassen hätte. Niemand, der im Leben nach etwas Großem strebt, bleibt in der Provinz. Nun lief er neben ihr, jener schöne Mann, den sie kaum kannte. Sie wollte ihn jetzt auch gar nicht genauer kennen. War er hierhergekommen, um sie zu finden? War es eine Schicksalsfügung? Sein Bericht hatte sie berührt. Er würde ihr Held sein. Sie legte ihren Arm um seine Schultern. Er erwiderte ihre Gefühle und tat dasselbe. Vor Erregung bekam sie eine Gänsehaut. Eine innige Freundschaft war besiegelt.
Manilaist für viele westliche Touristen ein klangvoller, exotischer Name. Sie glauben, diese Stadt sei eine fernöstliche Metropole, müssen dann aber feststellen, dass sie sich in einem eher westlich geprägten Betonloch befinden. Allein im Stadtzentrum leben rund zwanzig Millionen Menschen. Die erschreckenden Folgen dieses Wachstums sind Gewühl, Lärm, kilometerlange Verkehrsstaus, Dreck am Straßenrand und eine an manchen Tagen über alle Maßen verschmutzte Luft. Eine riesige Smogwolke liegt an heißen Tagen über der Stadt und ein ätzender Gestank aus Abfall und Kot weht über den Slums. Andererseits ist diese Stadt ein faszinierender Schmelztiegel von Menschen verschiedener Religionen: Christen, Moslems und Buddhisten.
Als Tochter einer wohlhabenden Familie des Großbürgertums hatte Diwata die trostlosen und heruntergekommenen Viertel ihrer Heimatstadt niemals betreten. Marian sollte diese Orte natürlich auch nicht sehen und sich in die Schönheit ihrer Stadt verlieben. Ihre Stadtbesichtigung begann deshalb in Manilas Altstadt Intramuros. Während sie die Stadt „innerhalb der Mauern“ betraten, zeigte Diwata auf das Erbe der spanischen Kolonialherrschaft und erklärte: „Diese mächtigen Steinwälle und tunnelartigen Tore zeugen von der Macht der Spanier.“
„Ermordeten die Spanier auch so viele Eingeborene wie auf ihren Eroberungen im heutigen Lateinamerika?“, erkundigte sich Marian.
„Nein“, antwortete Diwata, „sie gingen diplomatischer vor, indem sie die einheimische Bevölkerung mit Hilfe von Tauschwaren und Geschenken zum Katholizismus bekehrten.“
„Und wie lange blieben sie auf den Philippinen?“
„Du wirst es kaum glauben“, sagte Diwata. „Ihre Kolonialherrschaft dauerte 333 Jahre: von 1565, als Miguel Antonio Legazpi einen Blut Pakt mit Häuptling Raja Sikatuna schloss, bis zum zehnten Dezember 1898, als der Friedensvertrag von Paris das Ende des Spanisch-Amerikanischen Krieges bestätigte. Die Philippinen wurden nun von den Amerikanern kolonialisiert. Die philippinischen Truppen jedoch leisteten unter Führung ihres Generals Aguinaldo erheblichen Widerstand. Es folgte ein Guerillakrieg, der bis 1911 dauerte und dem Tausende Filipinos und Amerikaner zum Opfer fielen.“
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