Kinder ließen bunte Luftballons steigen, Straßenhändler verkauften farbenfrohe Zuckerwatte, allerlei Süßigkeiten und Eis, fröhliche Jugendliche lärmten auf dem Rasen und eng umschlungene Liebespaare zogen an ihm vorbei. Wie viele Monate, ja Jahre waren vergangen, seit er jene Trunkenheit der Liebe verspürt hatte? Die tollen Tage der Liebe mit seiner in Trennung lebenden Frau Lesley waren ja schon lange vorüber.
Die Sonne badete Bäume, Menschen und Gebäude in einem purpurnen Rot und ließ sowohl seine Umgebung als auch ihn selbst unwirklich erscheinen. Träumte er? Da tauchte plötzlich, umkreist von Nationalflaggen und gestutzten Bäumen, das imposante Monument des Nationalhelden und Dichters José Rizal auf, das sogar die höchsten Bäume des Parks überragte. Warum war er überhaupt hierhergekommen? Er war Verwirrt. Alles drehte sich. Er ging weiter, versuchte sich zu konzentrieren, setzte sich wieder hin. Da fiel ihm ein, dass er noch fast gar nichts gegessen und getrunken hatte. Er kaufte sich ein geröstetes Hähnchen mit Reis, Gemüse und Erdnuss-Soße sowie eine Dose Mangosaft. Das gute Essen, welches er mit großem Appetit aß, schien seine Gehirnzellen wieder zu aktivieren. Das Konzert, schoss es durch seinen Kopf. Das Konzert der alternativen Rockgruppe Eraserheads , jener schon regional bekannten Newcomerband, die heute Abend auftreten sollte. Doch wo fand das Konzert statt? Auf der legendären Uferpromenade südlich des Parks, nicht weit vom Hafen entfernt. Wie kam er aber dorthin? Er fühlte sich verloren wie ein kleines Kind, tappte herum, öffnete ungeschickt seinen Stadtplan und versuchte sich zu orientieren.
Plötzlich sah er zwei attraktive junge Frauen. Eine trug eine blaue Jeans und ein weißes Hemd. Doch es war die Schönere von beiden, die ihm sofort ins Auge fiel. Ihre langen schwarzen Haare hoben sich vom weißen Kleid ab, das die perfekte Figur ihres zierlichen Körpers betonte. Sein Herz pochte. Schüchtern blieb er stehen. Dann überwand er seine Hemmungen, holte die beiden ein und stotterte mit unüberhörbarem deutschem Akzent auf Tagalog:
„ Saán ang konsiyerto?“
Sie verstand ihn nicht. Etwas genervt wiederholte er, jetzt mit kräftigerer Stimme:
„Saán ang konsiyerto?“
Die Schöne lachte.
„Wo das Konzert ist, willst du wissen?“, fragte sie in einem solch perfekten Deutsch, dass Marian sie verblüfft anschaute. „Komm einfach mit. Wir gehen auch dorthin.“ Beide Frauen und Marian setzen sich auf eine Parkbank. Die mit der blauen Jeans und dem weißen Hemd Bekleidete stellte sich vor.
„Ich heiße Imelda“, sagte sie auf Englisch mit amerikanischem Akzent. Sie lächelte dabei. Marian konnte sehen, dass sie mittellange Haare und einen Scheitel trug.
„Und mein Name ist Diwata“, sagte die Schöne auf Deutsch und sah ihn mit ihren großen mandelförmigen Augen so an, als wollte sie einen Blitz durch seinen Körper jagen. Der Name Diwata stammt aus dem Sanskrit. Devedha bedeutet in dieser Sprache Göttliche . In der Mythologie ihres Landes war Diwata eine göttliche Nymphe oder Fee. Der Name passte zu jener Frau, deren außergewöhnliche Anmut natürlich und märchenhaft war. Nur ihre vollen sinnlichen Lippen waren rot geschminkt und verliehen ihrem Gesicht dadurch eine noch erotischere Ausstrahlung.
„Und wie heißt du?“
„Marian.“
„Marian? Dieser Name klingt aber nicht sehr deutsch“, wunderte sich Diwata. Obwohl sie es nicht wollte, musste sie Marian immer wieder ansehen. Was für ein Adonis war über ihren Weg gelaufen! Sollte dieser Deutsche Amor verkörpern, so entsprach er völlig der klischeehaften Vorstellung gegenüber einem nordischen Gott. Er hatte tiefblaue Augen, natürliche, mittellange, blonde Locken bedeckten seinen Kopf. Erfreulicherweise hatte Marian keinen Bierbauch wie viele primitive Männer auf ihrer Wanderung durch die Schlafzimmer schöner Frauen ihres Landes. Seine Körpergröße war perfekt, das heißt weder zu groß noch zu klein. Er trug eine blaue Jeans und ein grünes T-Shirt. Imelda war ein bisschen beleidigt, weil sich ihre Freundin nur noch für den attraktiven Deutschen zu interessieren schien. Besonders ärgerte sie, dass sie nur Deutsch sprach, eine Sprache, die sie überhaupt nicht verstand. Eine Weile saßen alle drei stumm da und beobachteten die vorbeiziehenden Menschen.
„Hast du eine Freundin?“, fragte Imelda plötzlich mit schüchterner Stimme. „Nein“, antwortete der verblüffte Deutsche.
„Bist du verheiratet und hast du Kinder?“, fragte Diwata.
„Nein“, log Marian mit der überzeugenden Stimme eines Schauspielers.
Einen Augenblick schämte er sich seiner fatalen Lüge wegen, doch dann beruhigte er sein Gewissen. Sollte er etwa den Zauber einer solchen Begegnung mit der unerfreulichen Geschichte seiner komplizierten Beziehung überschatten? Mussten die anmutigen Frauen wissen, dass er eine zweijährige Tochter namens Eliza Snow Patricia hatte und von seiner jungen Frau Lesley getrennt lebte? Seine Glut für Lesley hatte schon seit längerer Zeit an Leidenschaft verloren, erloschen war sie trotzdem nicht. Unerträglich war vielmehr die tägliche Routine gewesen, die aus ihm einen Roboter gemacht hatte. Hinzu kamen scheinbar unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Elizas Erziehung. War er allein nach Manila gekommen, weil er einen völligen Neuanfang brauchte oder wollte er sich nur finden, um später nach London zurückzukehren und im vertrauten Kreise der Familie ein neues Leben zu wagen?
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und ein riesiger Menschenstrom bewegte sich zur großen Bühne, auf der das Konzert der Gruppe Eraserheads stattfinden sollte. Marian und die beiden Frauen folgten der Menschenmenge. Es herrschte eine euphorische Stimmung. Auch Diwatas und Imeldas Fröhlichkeit wirkten geradezu elektrisierend, obwohl sie begonnen hatten, sich nur in Tagalog zu unterhalten, einer Sprache, die Marian nur sehr schlecht beherrschte. Warum lachten sie? Machten sie sich vielleicht über ihn lustig? Er sollte wohl nicht immer alles auf sich selbst beziehen. Auf der Uferpromenade erkannte man schon die riesige, rot beleuchtete Bühne, vor der sich schon ziemlich viele Menschen versammelt hatten. Mit Glück gelang es Marian und seinen beiden Begleiterinnen, relativ weit vorne Stehplätze zu ergattern, obwohl man die Bühne nicht besonders gut sehen konnte.
Sehr bald waren sie von einer riesigen Menschenmenge umzingelt, der man scheinbar unmöglich entfliehen konnte. Da es ewig dauerte, bis die Musiker erschienen, verloren viele die Geduld und grölten, in der Hoffnung, das Konzert würde irgendwann einmal beginnen. Die Zeit, die das Publikum warten musste, schien ewig zu dauern, doch endlich stolzierten die Musiker auf die Bühne. Sänger, Gitarristen und Schlagzeuger wurden mit einem ohrenbetäubenden Applaus begrüßt. Das gesamte Konzert glich dem Ausbruch des Vulkans Pinatubo. Die Massen sangen, klatschten, grölten mit. Mädchen kreischten, Tausende von Armen zuckten in Ekstase in die Höhe, wie unkontrollierbare Wellen bewegten sich wogende Körper im Takt, Männer rissen sich ihre T-Shirts vom Leib und unzählige Frauen warfen BHs und Slips auf die Bühne.
Diwata saß auf Marians Rücken, um die Musiker besser zu sehen. Ihre nackten Oberschenkel berührten die Wangen seines Gesichts und ihre Hände krallten sich in seine Schulter. Welch unbändiges Verlangen verspürte er plötzlich, sich in Zeus zu verwandeln! In der Gestalt eines weißen Stieres wollte er seine auf ihm sitzende, ihn mit beiden Armen und Beinen umschlingende Europa durch das Publikum tragen und verschwinden. Doch zugleich schämte er sich ein wenig. Was war in ihn gefahren? Er kannte die zierliche junge Frau ja erst seit etwa vier Stunden. Außerdem musste er schmunzeln, als er sich vorstellte, welch große Massenpanik sein Auftritt als schnaubender weißer Stier auslösen würde.
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