Die Wohnung gehörte einem alten Kumpel, dem er ab und zu bei den Unternehmungen half. Ihre Bekanntschaft war gut, sodass sein Freund ihn hier eine Zeit lang gratis wohnen ließ. Das war dringend notwendig. Er hatte kein Geld. Die Geschäfte liefen schlecht. Die Stadt hatte ordentlich aufgeräumt in den letzten Jahren. Seinen Stammplatz in der Opernpassage hatte er verloren.
Die Passage, die in den Fünfzigerjahren errichtet wurde, um die Fußgänger von der Straße in den Untergrund zu verlegen, damit sie den zunehmenden Autoverkehr nicht behinderten, bestand aus drei zusammengelegten Unterführungen. Die Opernpassage, die Kärntnertorpassage und die Westpassage. Durch die Verbindung der drei Tunnel wurde der Resselpark, der vor der Karlskirche angelegt war, mit den Stationen der Wiener Untergrundbahnen der Linien zwei und vier verbunden. Es war ein Umschlagplatz für eine Unmenge an Passanten, die entweder zur Kirche, in die Innenstadt oder die U-Bahnlinie wechseln wollten. Es war einer der ergiebigsten Verkaufsplätze für Drogen. Die Dealer gingen in der Menschenmenge unter und konnten leicht anonym bleiben. Das nutzte Siegfried Egger, der versuchte, sich hier seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Rauschmitteln zu verdienen. Vor neun Jahren wurde die Polizeiinspektion vergrößert und die Beamten aufgestockt. Das erschwerte den Dealern die Arbeit. An jeder Ecke lauerten Polizisten. Als vor fünf Jahren die gesamte Unterführung generalsaniert wurde, kam ein neues Lichtkonzept und die einzelnen Passagen wurden verbreitert, damit sich die unzähligen Menschen besser verteilten. Das war das Ende des Drogenhandels in der Opernpassage. Es gab keine dunklen Ecken mehr, keine Masse an Leuten, in die man untertauchen konnte und dutzende Polizisten. Die Passage war von allem Gesindel gesäubert, hatte die Presse verkündet.
Siggi wich in den Stadtpark an der Ringstraße aus. Eine riesige Anlage, die vom ersten bis in den dritten Gemeindebezirk reichte, mit vielen Versteckmöglichkeiten in Büschen und Bäumen. Er wurde im Zuge der Umgestaltung der Wiener Ringstraße nach dem Abriss der alten Stadtmauer Mitte des neunzehnten Jahrhunderts angelegt. Nach der Sanierung der Opernpassage war der Park von Dealern überlaufen und bald streifte dort vermehrt Polizei herum. Egger war als Kleindealer dem Polizeiaufgebot und vor allem der Konkurrenz nicht gewachsen. Dauernd musste man auf der Hut sein, was sich für jemanden der süchtig und die meiste Zeit high war als schwierig erwies.
Er versuchte in einschlägigen Lokalen Fuß zu fassen. Diese befanden in fester Hand des organisierten Verbrechens und jene, die das Geschäft störten, indem sie in die eigene Tasche wirtschafteten, wurden gnadenlos beiseite geräumt. Egger war auf den Straßenverkauf angewiesen. Er trieb sich vermehrt am Wiener Gürtel und der angrenzenden Felberstraße, in der Nähe des Westbahnhofes, herum. Dort zogen die Gehsteigschwalben ihre Kreise. Diese Ladys gingen dem ältesten Gewerbe der Welt nach und Siggi konnte dem einen oder anderen Freier und den Damen ein bisschen Stoff verkaufen, sofern der zuständige Zuhälter nicht mit Drogen handelte. Vor vier Jahren bildeten sich Bürgerinitiativen, die Fackelzüge durch die Straßen der Stadt veranstalteten, um gegen den Straßenstrich in Wohngebieten zu demonstrierten. Das hatte zur Folge, dass die Prostitution in Wien, außerhalb von Bordellen, an nicht mehr als zwei Orten erlaubt war. Im Wiener Prater und in Auhof, einem kargen Gewerbegebiet am westlichen Stadtrand. Beide Standorte boten weder den Damen, noch den Dealern Sicherheit. Die Frauen durften dort stehen, sodass sie von der Polizei weitestgehend in Ruhe gelassen wurden, die Drogenhändler nicht. Es gab viele Polizeistreifen. Die Uniformierten sollten für den Schutz der Damen sorgen und ruinierten Siggi das ohnehin schlechte Geschäft.
Die letzten Jahre waren für Siegfried Egger ungünstig verlaufen. Es gab keine Absatzplätze für einen kleinen, selbstständigen Dealer. Er wurde überall vertrieben. Die Einnahmen aus dem Drogenhandel deckten die Kosten für die eigene Sucht nicht mehr. Er musste sich andere Dinge einfallen lassen, um an Geld zu kommen.
Nachdem er die Wohnung betreten hatte, befand er sich in einem mickrigen Vorraum, von dem aus linker Hand eine Tür ins Bad führte, eine andere Tür geradeaus in den einzigen Wohnraum der kleinen Einzimmerwohnung. An der rechten Wand des Vorzimmers stand ein Kleiderschrank, in den er die Daunenjacke hängte, nachdem er sie auf Blutflecken untersucht und sie für sauber befunden hatte. Gott sei Dank war das Blut nicht auf die Kleidung gespritzt. Es wäre am Weg durch die Stadt aufgefallen. Er zog die gelben Arbeitsstiefel aus, die an der Spitze eine Stahlkappe eingearbeitet hatten und die er seit der Lehrzeit besaß. Er war dreiunddreißig. Die Lehre lag lange zurück. Dementsprechend waren die Schuhe verschlissen und der Stahl an manchen Stellen sichtbar, weil das Oberleder fehlte. Die Füße schienen seitdem nicht gewachsen zu sein. Der restlicher Körper hatte in den Jahren an Größe zugelegt, sodass er knapp einen Meter neunzig erreichte. Siggi ging ins Bad, das aus einem winzigen Heizkörper, einer Toilette, einem kleinen Waschbecken mit darüber hängendem Spiegelschrank und einer Badewanne bestand. Wenn man auf den Lokus wollte, musste man die Badezimmertür schließen, da der Raum keinen Platz bot. Der alte Duschvorhang, der rechts neben dem Waschbecken zusammengeschoben auf den nächsten Einsatz wartete, verbreitete einen feuchten Geruch.
Egger stellte sich vor den Waschtisch und zog sein schwarzes T-Shirt aus, auf dem Eddie, das Maskottchen der Heavy-Metal-Band Iron Maiden, eine englische Fahne schwenkte. Darüber der unverkennbare Schriftzug des Bandnamens. Zuerst drehte er das Leibchen vor sich, um es ebenfalls auf Blutflecken zu untersuchen. Sauber. Er roch daran und warf es in die Badewanne. Er musste es auswaschen. Im Spiegel betrachtete er den ausgemergelten, sehnigen Oberkörper. Es stimmte, die letzten Jahre waren schlecht, dachte Siggi. War es ihm sein ganzes Leben nicht gut ergangen? Er erinnerte sich.
*
In den Achtzigern, in Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk. Seine Eltern hatten eine kleine Wohnung erhalten. Eine Sozialwohnung der Stadt, die an bedürftige Familien vergeben wurde. Sie hatten die Unterkunft nach der Geburt von Siegfried zugewiesen bekommen. Es war nicht das beste Viertel der Hauptstadt. Sein Vater fühlte sich sofort zu Hause. Beim Branntweiner traf er Gleichgesinnte, wenn sie sich in dem kleinen Lokal den ganzen Tag über das Bier, den Wein und die Schnäpse einflößten. Die Auflage der Stadt, damit sie die Unterkunft behalten konnten, war, dass er sich eine Arbeit suchen und bald eine bezahlbare Wohnung nehmen musste. Das Wohnrecht in der Sozialwohnung war begrenzt. Siggi glaubte sich zu erinnern, dass von zehn Jahren die Rede war. Das spielte keine Rolle. Sie blieben nicht lang. Das Kindergeld und das Arbeitslosengeld verwendete Siegfrieds Vater hauptsächlich, um seine Sucht zu finanzieren. Für die Familie verblieb das Notwendigste. Die Mutter und er mussten öfter in die Gruft essen gehen, eine von der Caritas betriebene Obdachloseneinrichtung im sechsten Bezirk.
Für die Drogensucht erpresste oder erbettelte der Vater Geld von irgendwelchen Saufkumpanen. Oder er schlug jemanden im Auftrag eines anderen gegen Bezahlung zusammen. Mit der durchtrainierten Statur und den hundert Kilo bei einem Meter fünfundachtzig war das für ihn kein Problem. Rudolf Egger hatte zeit seines Lebens auf der Straße gelebt und kannte alle Tricks. Wenn er statt des schönen, blauen Hemdes, das er normalerweise beim Ausgehen trug, das karierte Flanellhemd über das ärmellose, gerippte, weiße Unterhemd anzog, konnte seine Frau Annemarie damit rechnen, ihn verarzten zu müssen. Das war das Schlägerhemd. Zu Hause trug Rudolf ein Unterleibchen zu einer grauen Stoffhose mit einem schwarzen Ledergürtel, der unheimlich wehtat, wie Siegfried wusste. Die Erinnerung war in vielen Punkten verschwommen. Das wütende Gesicht des Vaters, mit dem dichten, schwarzen Schnurrbart und den zerrauften Haaren, wie er den Gürtel aus der Hose fädelte, wenn er nicht spurte, sah er klar vor sich. Seine zierliche, blonde Mutter verzog sich in diesen Fällen ins Badezimmer und ließ ihn mit dem Geruch von Schweiß und Alkohol auf den starken Armen und der breiten, behaarten Brust zurück. Sich einzumischen brächte ihr eine gleichartige Behandlung mit dem Gürtel ein.
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