Gegen acht Uhr war es soweit. Die Hausbesitzerin verließ die Villa und sperrte gewissenhaft die Vordertür ab. Sie ging den Weg bis zum grünen, schmiedeeisernen Gartentor und schloss diese hinter sich ab. Jetzt hatte er das Haus den ganzen Tag für sich. Egger schaute sich um. Kein Mensch zu sehen. In geduckter Haltung schlich er aus den Büschen und überwand den Zaun, bei dem die Eisenspitzen viel zu weit auseinanderlagen, als dass sie jemanden aufhielten. Die Hecke hinter dem Zaun stellte ein größeres Problem dar, da man sich nach den Eisenstangen nicht zu Boden sinken lassen konnte, sondern die dünnen, instabilen Äste überwinden musste. Er nahm den Rucksack ab und warf ihn in den Garten. Siegfried stieg über den Zaun und legte sich flach auf die Hecke. In dieser Position verteilte er sein Gewicht und sank nicht im Geäst ein. Er rollte sich ab und sprang auf den Rasen. Nachdem er sich die Tasche erneut geschultert hatte, erreichte er mit schnellen Schritten die Terrasse. Er prüfte die Umgebung. Alles ruhig. Er ging ans Werk.
Eine der Terrassentüren war gekippt. Es wurde leichter, als er gedacht hatte. Siggi zog einen langen Schraubendreher aus dem Rucksack und begann die Tür auszuhebeln. Seine Lehrmeister hatten gute Arbeit geleistet und die Erfahrung tat ihr Übriges. Er verschaffte sich schnell Zutritt und verstaute den Schraubendreher im Ranzen. Egger betrat das Wohnzimmer. Um diesen Raum kümmerte er sich am Schluss. Das Zimmer, das dem Fluchtweg am nächsten lag, kam zuletzt an die Reihe. Mit zunehmender Zeit, die er im Haus verbrachte, wurde das Risiko entdeckt zu werden größer. Aus diesem Grund hatte er sich angewöhnt, vom entferntesten Punkt Richtung Ausgang zu arbeiten. Sein Weg führte ihn in den Flur. Er betrachtete den Flachbildschirm. Wertvoll. Viel zu groß für den Rucksack. Wenn die Zeit reif war, kaufte er sich ein solches Gerät. Wenn er eine eigene Wohnung hatte. Den Blick auf den Bildschirm gerichtete, stieß er gegen den Couchtisch. Die Vase mit den gelbroten Tulpen wackelte bedenklich und Egger griff zu, um sie zu stabilisieren. Ohne die schnelle Reaktion wäre sie umgekippt und nach dem Aufrichten böten die Wasserspuren ein untrügliches Zeichen seiner Anwesenheit. Im Flur bog er nach links ab. Dort musste das Arbeitszimmer sein. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür. Sie war verschlossen. Nicht versperrt. Als er eintrat, sah er sich einem massiven Schreibtisch gegenüber. Diesen hatte er gestern durch das Glasfenster gesehen, auf der anderen Seite des Zimmereingangs lag. Rechts neben dem Eingang führte eine Tür in einen weiteren Raum, den er sich anschaute, wenn er hier fertig war. In der rechten Wand befand sich ein zweites Fenster, das vierte an der Vorderseite des Hauses, direkt unter dem kleinen Türmchen, das der Villa ein märchenhaftes Aussehen verlieh. Vor jeder der grün gestrichenen Mauern standen vollgeräumte Bücherregale. Siggi konnte nicht unterscheiden, ob es sich um Stilmöbel oder echte Antiquitäten handelte. Er war kein Möbelexperte. Den Schreitisch, den er umrundete, um sich vor den dunkelbraunen, abgesteppten Ledersessel zu stellen, konnte er, wie die restlichen Möbel, nicht schätzen. Der Tisch war groß. Auf der Tischplatte stand eine goldfarbene Lampe mit grünem Schirm. Daneben eine Plexiglashalterung mit zwei Stiften. Als Schreibunterlage diente eine Matte aus dunkelgrünem Leder. An der linken und rechten Seite des reich verzierten Möbelstücks befanden sich vier Laden. Eine in der Mitte. Diese hatte ein Schloss und ließ sich nicht öffnen, wie Siggi feststellen musste. Wenn sich irgendetwas Wertvolles in dem Schreibtisch fände, wäre es hier. Siegfried durchstöberte die seitlichen Schubfächer. Er fand weder Dinge, die sich zum Mitnehmen anboten, noch den Schlüssel zur mittleren Lade. Er war gezwungen, sie aufzubrechen. Er tat das nicht gerne. Benutzte einer der Hausbesitzer das Arbeitszimmer, bemerkte er sofort das aufgebrochene Schloss. Warum sperrte man eine Lade ab, wenn sich darin wertloses Zeug befand? Egger verwendete erneut den Schraubendreher aus dem Rucksack und mit einem Knirschen öffnete sich die Schublade. Er durchsuchte den Inhalt. Fotos, Dokumente und zweihundert Euro in bar. Siggi steckte das Geld in die Innentasche der Jacke, den Rest ließ er zurück. Der nächste Schuss war gesichert. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Wenn hinter den zahlreichen Büchern ein Safe zu finden gewesen wäre, könnte er diesen nicht öffnen. Seine Kenntnisse waren zu gering. Sorgfältig schob er die Lade zu, sodass bei einem flüchtigen Blick nichts Ungewöhnliches zu erkennen war. Siegfried ging zu der Tür, durch die er hineingekommen war. Ein schneller Rundblick in den Flur. Nichts. Er verschloss die Tür vom Arbeitszimmer aus und wandte sich dem zweiten Ausgang zu. Dieser Durchgang führte in ein Esszimmer, das weiß gestrichen war und einen hellen Parkettboden hatte. Links befanden sich die zwei mittleren Fenster der Vorderseite des Hauses. In der Mitte des Zimmers stand ein großer, schwerer Holztisch mit zwölf dunkelbraunen Ledersesseln. Zwei an den beiden Kopfenden und fünf an jeder langen Seite des Tisches. An den Mauern hingen Gemälde von Landschaften und an der Wand gegenüber stand eine stilvolle Kommode. Er fände dort Geschirr und Besteck. Wenn das Essbesteck aus Silber wäre, nähme er es mit. Siggi öffnete die Laden und Türen des Schrankes. Die Teller, Tassen und Schüsseln mit dem kleinen, filigranen Blumenmuster waren aus teurem Porzellan. Zu umfangreich und zu schwer, um sie mitzunehmen. Geschirr ließ sich schlecht verkaufen. Das Besteck war ein Reinfall. Es war aus Edelstahl. Er wollte den Platz im Rucksack nicht verschwenden. Im Wohnzimmer vermutete er Schmuck und die Küche böte noch eine Überraschung für ihn, dachte er. Durch die zweite Tür des Esszimmers gelangte er zurück in den Flur. Er verschloss diesen Eingang sorgfältig. Die Tür daneben führte in die Kochstube. Die übrige Einrichtung des Hauses fand Egger stilvoll, die Küche aus Kieferholz furchtbar. Überall das verästelte Muster groben Holzes. Die Schranktüren, die Arbeitsplatte und der Esstisch waren damit bedeckt. Ihm könnte bei diesem Anblick schwindelig werden. Zuerst machte er sich über die Hängeschränke her und durchsuchte sie. Gerade als Siggi den ersten Schrank öffnen wollte, hörte er, dass ein Schlüssel im Schloss der Eingangstür gedreht wurde.
Verdammt! Wer war das? Die Tür wurde geöffnet und eine Person trat ein. Er musste weg. Der Fluchtweg führte über den Flur, in dem sich der Eindringling aufhielt. Durch das Küchenfenster? Er müsste es öffnen und hinaus klettern. Das dauert zu lange, dachte er. Seine Gedanken rasten. Von einem Moment auf den anderen hatte sich die Lage grundlegend geändert. Fünf Minuten später und er wäre aus dem Haus gewesen. Oder zumindest im Wohnzimmer, wo er schnell durch die Terrassentür verschwunden wäre. Was tun? Er erinnerte sich, dass er vor zwölf Jahren bei einem Einbruch überrascht worden war. Bisher ein Einzelfall. Er hatte gedacht, das Haus wäre leer. Er hatte sich geirrt, nicht genug recherchiert. War gleich am ersten Tag eingebrochen. Im oberen Stock war der älteste Sohn der Familie noch zu Hause gewesen. Als dieser die Treppe heruntergekommen war, hatte sich Siegfried ein Messer gegriffen und ihn bedroht. Der junge Mann hatte die Hände gehoben und darum gefleht, dass Siggi ihm nichts tun solle. Egger hatte sich rasch aus dem Staub gemacht. Sie haben ihn geschnappt.
Und jetzt? Sollte er erneut ein Messer nehmen? Er war in der Küche. Hier gab es mit Sicherheit ein Schneidegerät. Auf der Arbeitsplatte lag ein langes Fleischmesser. Siggi griff zu. Er schlich zur Tür und späte um die Ecke. Sofort erkannte er das Nadelstreifkostüm der Hausbesitzerin. Sie drehte ihm den Rücken zu. War sie nicht arbeiten gegangen? Hatte sie Unterlagen vergessen, die sie im Büro brauchte? Egal. Sie war zurückgekommen. Er hoffte, dass sie an der Küche vorbei ins Arbeitszimmer ging, um die liegengelassenen Akten zu holen. Er könnte sich schnell über den Flur und das Wohnzimmer absetzen. Eine weitere Möglichkeit war, dass sie zuerst ein Glas Wasser trinken wollte. Sie käme in die Küche. Zu ihm. Es bliebe ihm zu reagieren. In einer solchen Situation musste man handeln, nicht kontern, oder man verlor die Kontrolle. Nach wie vor drehte die Managerin Siegfried den Rücken zu. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen. Sie wollte das saubere Haus nicht mit dem Dreck der Straße verschmutzen. Sie geht ins Arbeitszimmer, dachte Siggi. Für einen kurzen Abstecher in die Küche ließ man das Schuhwerk an. Oder? Egger war ratlos. Muss die gerade jetzt auftauchen? Wenn sie in die Kochstube will, muss ich sie vorher überraschen, dachte er. Sie sah ihn nicht. Wusste nichts von seiner Anwesenheit. Jetzt!
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