Seine Eltern lernten sich auf der Straße kennen. Annemarie, Annerl nannten sie ihre Erziehungsberechtigten, war ein fesches Punkmädchen. Rudolf hatte keine bunten Haare. Der Nonkonformismus war ihm mit den Punks gemein. Es war ein Wunder, dass sie sich für das Kind entschieden, als die Mutter schwanger wurde. Siggi dachte, dass er sein Leben dem Frauenarzt zu verdanken hatte, der die Schwangerschaft feststellte. Er war Arzt und Sozialhelfer zugleich, der nach den offiziellen Ordinationszeiten zu den einschlägigen Plätzen in Wien fuhr, um dort den ärmsten kostenlos zu helfen. Nach der Untersuchung holte er den Vater in den kleinen Bus, der dem Arzt als mobile Ordination diente, und redete auf ihn ein. Er war es, der sie wegen der Bleibe an die Stadt und seinem alten Herrn ein Entzugsprogramm vermittelte. Die Wohnung nahmen sie.
Es war kurz nach Siegfrieds sechstem Geburtstag, die Einschulung stand bevor, als die Polizei an der Wohnungstür in Favoriten klingelte. Der Inspektor teilte der Familie mit, dass man Rudolf Egger in einer öffentlichen Toilette nahe dem Stadtpark gefunden hatte. Siggi kannte den Ausdruck Goldener Schuss noch nicht. Mama war unglücklich und weinte bitterlich. Ihm wurde erklärt, dass sein Vater nicht mehr nach Hause käme. Im Gegensatz zur Mutter war er unschlüssig, ob er traurig sein sollte. Er vermisste den Gestank nach Alkohol, das Herumschreien, das mitten in der Nacht vom polternden Lärm aufgeweckt werden und vor allem den Gürtel nicht.
Der Tod des Vaters hatte für Siggi negative Folgen. Seine Mutter war lethargisch. Annemarie sah sich den ganzen Tag irgendwelche Talkshows oder Familienserien im Fernsehen an, bei denen man sie unter keinen Umständen stören durfte. Den Großteil der Zeit mit einer Wodkaflasche in der Hand. Kurz nach dem ersten Schultag musste Siegfried alleine zur Schule gehen. Seine Mutter brachte es noch fertig das Mittagessen vorzubereiten, bevor sie auf dem Sofa in Selbstmittleid versank. Wenn Siggi von der Ausbildungsstätte nach Hause kam, hatte sie einen Vollrausch und schlief. Er war ein Schlüsselkind, obwohl jemand zu Hause war. Bald bekam er statt des Mittagessens Geld in die Hand gedrückt. Der kleine Lebensmittelhändler am Schulweg verkaufte ihm Semmeln mit Wurst oder Leberkäse, von denen er sich die nächsten zwei Jahre hauptsächlich ernährte. Täglich gab er Siggi Flaschen für Annerl mit.
Zwei Jahre später ging ihr der Schnaps aus. Und das kurz vor dem Vollrausch und lange bevor Siegfried frische Pullen brachte. Zittrig startete Annemarie das Auto, das seit Rudolfs Tod nicht bewegt worden war. Sie hatte vor Einkaufen zu fahren, obwohl der kleine Lebensmittelhändler keine zwanzig Schritte von der Wohnung entfernt war. Sie wollte auf der Südosttangente, der Wiener Stadtautobahn, über die Donau in den einundzwanzigsten Bezirk, weil sie dort aufgewachsen war und sich erinnerte, dass es dort einen Lebensmittelmarkt gab, in dem sie als Kind eingekauft hatte. Von dieser Einkaufsfahrt kam Annemarie nicht mehr zurück. Erneut erschienen Polizisten an der Haustür und brachten schlechte Nachrichten. Bei dem Besuch war ein Mitarbeiter des Jugendamtes zugegen. Sie erklärten ihm, dass seine Mutter einen schweren Autounfall unter Alkoholeinfluss gehabt hatte und nahmen den Rotschopf mit.
Ein paar Monate später stand Siggi vor einer kleinen, schlanken, blondgefärbten Frau und einem dicken, grauhaarigen Mann. Sie waren in das Heim gekommen, in das der Mitarbeiter des Jugendamtes ihn gesteckt hatte, nachdem er zu Hause abgeholt worden war. Die beiden stellten sich als Hermine und Heinz Hrdlicka vor. Seine Großeltern. Er kannte sie nicht und sollte mitgehen. Sie kümmerten sich um ihn und sagten Siegfried, dass sie ihm eine erfreulichere Zukunft böten. Alles war besser, als im Heim zu bleiben.
Sie brachten Siggi in ihr Haus nach Mistelbach, einer vierzig Kilometer nordöstlich von Wien gelegenen Stadt. Sein Leben sollte jetzt besser werden. Hermine und Heinz hatten keine Ahnung. Zunächst beschlossen sie, Siegfried ein Jahr aus der Schule zu nehmen, damit er in Ruhe die traumatischen Erlebnisse verarbeiten konnte. Oma und Opa waren beide zu Hause. Hermine ihr ganzes Leben lang Hausfrau, Heinz pensionierter Maschinenbauschlosser. Sie klebten an Siggi. Anstatt ihm zu helfen, schienen sie darum bemüht, die Schuld der Tochter zu negieren und alles auf den Vater zu schieben. Ihr größtes Anliegen war, Annerl Siegfried gegenüber reinzuwaschen. „Wir wussten es. Gleich, als sie ihn uns vorgestellt hatte, wussten wir, dass Rudolf kein Guter war“, war ein Satz, den er öfter hören musste. „Wäre Annerl nicht zur Hochzeit gegangen, lebe sie noch!“, ein Zweiter. Und wenn Siegfried sich nicht gemäß den Vorgaben seiner Großeltern benahm, hörte er: „Der Siggi ist wie der Vater.“ Mit der Zeit machte es ihm Spaß Oma und Opa zu provozieren und auf die Palme zu bringen. Das war leicht, mit Sätzen wie: „Der Papa hat das anders gemacht.“, oder, „Beim Papa war es viel besser, der hat mir das erlaubt.“
Im nächsten Jahr musste Siggi die Schulbank drücken. Für die Hrdlickas wurde der Besuch in der Schule zum fixen Bestandteil ihres Wochenplanes. Der Rotschopf kompensierte seine Zerrissenheit und Haltlosigkeit mit Aufsässigkeit. Er bekam Strafen von der Lehranstalt und Maßregelungen von den Großeltern. Siggi entglitt ihnen zunehmend. Er hatte gute Phasen, wie er es heute bezeichnete. Siegfried schaffte die Volksschule und die Hauptschule wider alle Erwartungen ohne Probleme. Nach dem neunten Pflichtschuljahr begann er eine Lehre. Zu spät.
„Willst du dir ein bisschen Taschengeld verdienen?“ Mit dieser Frage fing alles an. Ein Päckchen hier hin bringen, eines dort hin. Ohne zu wissen, was sich darin befand. Hermine und Heinz hielten ihren Enkel finanziell kurz. „Du lernst, mit Geld umzugehen und das Wenige zu schätzen. Du wirst uns dankbar sein“, sagten sie. Regelmäßig wurde Siegfried das geringe Taschengeld gekürzt. Als Strafmaßnahme, wenn er unartig war. Auf dieses Geld war er nicht mehr angewiesen. Siggi erfüllte sich seine Wünsche, indem er Pakete für Geld transportierte. Bald wusste Siegfried, was in den Päckchen war und als er probieren wollte, hielt ihn niemand davon ab. Im Gegenteil. Seine Auftraggeber ermutigten ihn. Einem abhängigen Boten musste man weniger bezahlen. Er gab sich mit Naturalien zufrieden. Es begann Siggis Aufstieg. Von Cannabis über Koks zu Heroin. Der übliche Leidensweg, wie er heute wusste.
Die berufliche Karriere ließ nicht lange auf sich warten. Siggi stieg vom Boten zum Dealer auf und neben den Naturalien kam Geld in die Kasse. Die Hrdlickas fielen aus allen Wolken, als ihr Enkel ihnen eröffnete, dass er die Lehre nicht beendete. Sie hielten zunächst zu ihm, da er sich freiwillig zum Zivildienst anmeldete. Die Großeltern dachten, dass der Beruf nichts für ihn gewesen sei, und er aus diesem Grund die Berufsausbildung geschmissen hatte. „Der Ersatzdienst wird ihn auf den rechten Weg bringen. Dort wird er Verantwortung lernen und es kann sein, dass er dort den Traumberuf findet“, redeten sich Oma und Opa ein. Siegfried hatte andere Gründe. Mit dem Zivildienst ersparte er sich das Militär. Den verpflichtenden Dienst am Staat wollte er unter keinen Umständen in einer Kaserne absolvieren. Dort gab es regelmäßige Drogenkontrollen und Zimmerüberprüfungen mit ausgebildeten Drogenhunden. Das wäre schlecht fürs Geschäft gewesen. Neben dem Zivildienst konnte er sich in aller Ruhe dem Handel mit Rauschmitteln widmen. Dachte er. Er musste feststellen, dass Zivildiener wie Soldaten überprüft wurden, was für ihn in einer Jugendstrafe endete und mit dem Eintrag in der schwarzen Liste der üblichen Verdächtigen.
Aus dieser Entwicklung entwickelten sich für Siggi zwei schwerwiegende Folgen. Hermine und Heinz Hrdlicka reichte es mit dem Egger-Kind und sie warfen ihn hinaus. Er musste sich eine eigene Wohnung suchen, was zunächst kein Problem darstellte, da er genug Geld gespart hatte, um sich ein kleines Heim in Wien anzumieten. Das Geld ging schnell aus, weil die zweite Folge war, dass die Organisation in ihm seit seiner Jugendstrafe ein Sicherheitsrisiko sah. Bei jedem Verdacht, jeder größeren Menge Drogen, welche die Polizei sicherstellte, und jedem geplatzten Drogenhandel stand die Kriminalpolizei bei ihm auf der Matte. Der erste Schritt ihrer Ermittlungen war, die schwarze Liste der üblichen Verdächtigen abzuarbeiten. Es war eine Frage der Zeit, bis sie Siegfried Egger erneut erwischten. Aufgrund der Volljährigkeit käme er nicht mit einer Jugendstrafe davon. Und was täte Siggi? Packte er aus? Verriet er seine Hintermänner, um sich ein milderes Strafmaß auszuhandeln? Sie machten Siegfried klar, dass er weder als Kurier, noch als Dealer weiterarbeiten konnte. Gerne verkauften sie ihm weiterhin das benötigte Heroin zum Vorzugspreis. Als kleines Dankeschön für seine Dienste. Ohne Einkommen, ohne Ausbildung und aufgrund der Tatsache, dass er für die Sucht bezahlen musste, begann er dieses und jenes zu stehlen, um Geld heranzuschaffen. Zuerst geringfügigere Diebstähle. Dinge, die man leicht zu Geld machen konnte. Mobiltelefone, Handtaschen und Artikel aus Kaufhäusern. Siggi entwickelte seine Technik weiter. Lernte von befreundeten Dieben und Einbrechern und schuf sich ein Netzwerk von Hehlern, welche die Sachen gegen eine kleine Provision verkauften. Bald brach er professionell in Häuser ein. Wie heute.
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