Er setzt sich auf eine fest montierte Bank aus dicken Holzbalken und ruft unbemerkt nach Dulgur. In wenigen Sekunden kommt sie angeflogen. Es ist eine wunderschöne kleine, schlanke Turteltaube, die sich sofort ganz zutraulich auf seine Schulter setzt. Am Rücken hat sie rostbraune Federn, die zur Seite hin blaugrau werden. Am Hals und an der Brust sind die zarten Federn rötlich gefärbt.
„Ich habe schon von dir gehört“, gurrt sie freundlich. „Meine Freundinnen und ich helfen dir gerne. Du musst mir nur genau sagen, was du willst.“ Robert erzählt ihr von seinen bisherigen Erfahrungen mit den Leuten vom siebten Stock und dass er Hilfe braucht. Er will wissen, wohin die beiden Perser mit dem grünen Jaguar fahren. Wohin sie die Mädchen bringen. „Das ist alles kein Problem. Wenn die beiden wieder kommen, ruf mich, und ich werde sie mit meinen Freundinnen nicht aus den Augen lassen“, antwortet sie ihm und schwingt sich wieder in die Luft. Erwartungsvoll lauert Robert auf das Erscheinen der Perser. Eine Stunde später ist es so weit, der grüne Jaguar ist nicht zu übersehen. Die beiden steigen rasch aus und fahren in den siebten Stock. Robert verständigt sofort Dulgur. Wie zuvor landet sie auf seiner Schulter und gurrt zustimmend, als er ihr den grünen Wagen zeigt. Sie setzt sich auf ein Hausdach und wartet.
Inzwischen zieht ein Gewitter auf, ohne das es merklich kühler wird. Grelle Blitze zucken durch die Luft und lauter Donner erschüttert die Trommelfelle. Sicher hat der Blitz irgendwo eingeschlagen, denn kurz darauf hört man schon die Sirenen der Feuerwehr. Heftige Windstöße toben um das Hochhaus, starker Regen setzt ein.
Dulgur ist verschwunden, irgendwo hat sie sicher Schutz gesucht. Kaum hat der Regen nachgelassen, kommen die beiden Perser aus dem Hochhaus. Zwei der Mädchen haben sie dabei. Höflich öffnen sie die hinteren Türen und lassen die Mädchen einsteigen, danach fahren sie sofort weg. Robert sieht erfreut, wie Dulgur, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, sich in die Lüfte schwingt und dem Wagen mühelos folgt. Es beruhigt ihn, dass sie trotz des Gewitters wachsam war.
Robert fährt mit dem Fahrstuhl in die siebte Etage und versucht, irgendein Geräusch aus der Wohnung zu hören. Bis auf den Flur heraus kann er laute Männerstimmen hören und dazwischen ängstliches Weinen von Frauen. Einige Male poltert es stark in der Nähe der Tür, dann wird sie abrupt aufgerissen. Im allerletzten Moment kann Robert ungesehen ins Treppenhaus entwischen. Nicht Alexander kommt heraus, sondern der schmale Igor, mit der dünnen, langen Nase. Er zieht eine der beiden Frauen, die noch in der Wohnung sind, mit sich. Er zischt ihr irgendetwas ins Ohr, während sie auf den Fahrstuhl warten. Die Frau wird ruhiger. Robert hetzt im Treppenhaus bis zum Erdgeschoss hinunter und wartet. An der Anzeigenleiste sieht er die einzelnen Stockwerke aufleuchten, der Fahrstuhl kommt, bleibt aber nicht stehen, sondern fährt weiter in den Keller. Durch das Treppenhaus läuft Robert ebenfalls runter. Er schleicht sich bis zum Kellerabteil, das zu dieser Wohnung gehört. Hinter der verrammelten Tür hört er nur die leise Stimme des Mannes. Nach einigen Minuten kommt dieser alleine heraus, verschließt das Vorhängeschloss und verschwindet nach oben.
Das Mädchen bleibt offensichtlich eingeschlossen im Keller zurück. Robert lauscht an der Kellertür, kann aber nichts hören, das Mädchen hinter der Tür macht wirklich absolut keinen Mucks. Er versucht, seine beiden Ratten zu finden. Sie sind nicht da. Robert ist ganz konfus, irgendetwas muss geschehen! Er rennt durch die Kellerflure und ruft mehrmals leise nach den beiden Ratten. Nichts, keine Spur von ihnen zu sehen. Endlich bleibt er stehen und schlägt sich heftig an die Stirn, das Amulett, er muss es doch reiben! Robert registriert erleichtert, dass sofort Alban vor ihm steht.
„Eines der Mädchen ist in dem Keller eingesperrt, sie wurde von diesem Igor heruntergebracht und hat geweint. Kannst du bitte einmal nachschauen, was mit ihr geschehen ist?“, bittet er Alban ganz aufgelöst. Der verschwindet sofort. Nach kurzer Zeit ist er wieder da und berichtet. Das Mädchen liegt auf der Liege und schläft ganz tief und fest. Sie rührt sich überhaupt nicht. Im Regal steht eine Flasche Apfelsaft und ein Stück Brot liegt daneben. Alban wirkt ziemlich erschrocken „Mit dem linken Fuß ist sie außerdem mit einer dünnen Kette ans Bett gefesselt.“
„Lieber Alban, beim nächsten Besuch bringe ich dir etwas Speck mit“, bedankt sich Robert und läuft nach oben. Vielleicht ist Dulgur schon zurück. So setzt er sich auf eine Bank im Park und wartet. Vom Gewitter ist das Gras noch nass und von den Blättern fallen noch vereinzelt große Tropfen. In der Ferne ist noch Donnergrollen zu hören. Etwas später kommt Dulgur angeflogen.
„Auf dem halben Weg nach Frankfurt haben sich die Perser auf einem Parkplatz mit einem dunklen Mercedes getroffen. Es ist aber keiner ausgestiegen, so dass ich nicht sehen konnte, wer da drin war. Die beiden Iraner haben die Mädchen ganz einfach abgegeben und sind wieder zurückgefahren. Wir haben sie weiter beobachtet, sie wohnen im Hilton Mainz.“ Nun weiß Robert eindeutig, dass sich da eine Bande von Menschenhändlern eingenistet hat. Was tun? Wenn er ein oder mehrere Mädchen befreit, was bringt das schon. Wo sollen sie auch hin. Gehen sie zur Polizei, werden sie ausgewiesen und haben wieder ihre alten Nöte. Besser ist doch, wenn er sich mit dem BKA in Verbindung setzt und denen Informationen liefert, so dass die Profis die Zentrale dieser Bande ausheben können. Egal, wo sie auch ist. Aber zuerst will er mal erreichen, dass es den Mädchen, die hier im Hochhaus sind, besser geht, dass sie, solange sie hier sind, besser behandelt werden. Doch es geht hier wirklich Schlag auf Schlag.
Am Nachmittag kommen die zwei Perser mit ihrem Jaguar schon wieder und holen sich die Mädchen ab. Eine geht von selbst und die andere, scheinbar ist es die junge Frau aus dem Keller, wird von Igor und Alexander in die Mitte genommen und unsanft geschoben Sie steigen ein und weg sind sie. Als Alexander und Igor zurückgehen, juckt es Robert, sein Können zu testen, und er sagt ganz leise „stone“. Beide stolpern. Alexander fängt sich fluchend, aber Igor fällt unsanft auf die Steinplatten des Eingangsbereichs. Er putzt sich den Staub von den Jeans und beide schauen sich verdutzt um. Dann verschwinden sie so schnell es geht im Fahrstuhl. Nur nicht noch mehr Aufmerksamkeit erwecken.
Es verspricht heute ein schöner Tag zu werden. Die Sonne strahlt schon am frühen Morgen von einem wolkenlosen blauen Himmel. Es ist angenehm warm. Die zahlreichen Amseln machen einen Höllenlärm mit ihrem Gezwitscher. Immerhin, so ein Vogel kann bis zu einhundert verschiedene Melodien, wenn er gut gelaunt ist. Zarter Blumenduft erfüllt die Luft, mit einem Wort, es ist Sommer. Die Menschen laufen leicht bekleidet herum, es wird sicherlich gegen Mittag wieder sehr heiß werden, denkt Robert. Die beiden Männer aus dem siebten Stock kommen mit dem Fahrstuhl herunter und steigen in ihren Lieferwagen, mit dem sie auch gleich losfahren.
Das geht hier wirklich zu, wie in einem Vogelhaus. Robert ist gespannt, was da noch geschieht. Nach ungefähr drei Stunden kommt der blaue Fiat zurück, und aus dem Inneren steigen wieder drei junge Frauen aus. Auffallend ist, dass alle drei für diese Jahreszeit viel zu warm gekleidet sind. Igor und Alexander schleppen große Koffer, alle fünf verschwinden im Fahrstuhl. Also kommt schon wieder Nachschub.
Robert ist geschockt, so kann das doch nicht immer weitergehen. Keiner sieht etwas, keiner sagt etwas, keiner tut etwas! Anscheinend weiß auch keiner was. Heute wird sich da bestimmt nicht mehr so viel tun, überlegt Robert und fährt in den elften Stock hoch. Irgendwie ist er schon erstaunt, dass er nicht müde wird. Immerhin sind jetzt einige Stunden vergangen, während er nur gewartet und beobachtet hat. Doch er fühlt sich richtig frisch und ist voller Arbeitseifer. Hängt das etwa schon mit der Energie zusammen, die das Amulett erwähnt hat? Na ja, er wird weiter darauf achten, ob das auch so bleiben wird. Jetzt geht er erst einmal an seine Hausaufgaben ran und wundert sich schon wieder, dass ihm alles, was er anpackt, so leicht fällt. Bezogen auf den Lehrstoff macht es ihm richtig Spaß, ein Thema nach dem anderen abzuarbeiten.
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