Langsam verblasst das Amulett und verschwindet. Früher als sonst wacht Robert auf und ist voller Tatendrang. Klar, dass er gleich ausprobieren will, was das Amulett ihm gesagt hat. Egal, an wem. Aber vorher muss er noch die lästigen Fragen seiner Mutter über sich ergehen lassen. Natürlich will sie wissen, was ihn so früh aus den Federn zieht. Aber gut, sofort nach dem Frühstück fährt er runter auf die Straße, geht in die Fußgängerzone und wartet, wer ihm wohl aus seiner Runde als erstes über den Weg läuft. Er drückt sich etwas herum, und da sieht er auch schon Chris elegant mit seinen Inlineskates anrollen. Er hat Robert noch nicht gesehen, also guckt der in seine Richtung und sagt leise „stone“.
Es ist verblüffend! Kaum gesagt, macht Chris fast einen Sprung und fällt hin. Einfach so am glatten Asphalt, es war kein Hindernis im Weg! Er liegt da, so platt wie eine Flunder! Verdutzt schaut Chris sich um, putzt sich den Staub von der Hose und sieht dann seinen Freund, der lächelnd auf ihn zukommt. Chris ist etwas füllig, sein Gesicht ist meist rosig. Misstrauisch schaut er durch seine fast geschlossenen Augen Robert entgegen.
„Na, es ist doch nicht so einfach, mit diesen Rollen zu laufen, was?“, grinst Robert.
„Da war doch was im Weg, ich konnte es spüren“, antwortet Chris verärgert. „Du brauchst gar nicht so hämisch zu lachen! Das kann doch jedem passieren.“ Damit dreht er ab und läuft in eine andere Richtung weg.
„Na, achte nur darauf, dass dir das nicht wieder passiert“, ruft ihm Robert nach. Er schaut ihm hinterher und sagt wieder „stone“.
Diesmal fällt Chris nicht. Er stolpert heftig, kann sich aber gerade noch, mit beiden Armen rudernd, fangen. Als er sich umdreht, sieht er wieder Robert, der ihm kopfschüttelnd nachschaut. Verärgert streicht Chris sich seine dunklen Haare aus der Stirn, flüstert: „Verdammt, wie hast du das gemacht?“, ist aber doch irritiert, weil er sieht, dass Robert zu weit weg ist. Als Chris verschwunden ist, will Robert es nochmals testen. Leise vor sich hin pfeifend kommt ein Junge mit buntem Radrennfahreroutfit, der ein neues schönes Rennrad bewegt. Anscheinend hat er es erst bekommen, denn andauernd schaut er es sich wieder an und streicht mit den Händen über den glatten, hellgrün lackierten Rahmen. In der Fußgängerzone steht er nur mit einem Fuß im Pedal und stößt sich mit dem anderen ab. So rollt er kontrolliert dahin.
„Stone“, sagt Robert leise, und der Junge kann sich nur mit Mühe an seinem Rad festklammern, fast wäre er auf die andere Seite gekippt. Er springt ab und bringt sein Rad zum Stehen. Verblüfft schaut er zurück und findet keine Erklärung für diesen Vorfall. Robert ahnt, dass er mit diesem „stone“ eine Waffe bekommen hat, die er unerkannt einsetzen kann, ohne jemanden zu verletzen. Verlockend!
Ein sehr schönes Erlebnis mit seinem Zauberwort hat Robert noch. Das Einkaufszentrum liegt neben einer dicht befahrenen Straße, ein Höllenlärm wird durch den dicht fließenden Verkehr verursacht. Es ist ein prachtvoller Sommertag, Sonnenstrahlen fluten durch die Baumkronen und malen lebendige Schatten auf das Pflaster des kleinen Platzes in der Fußgängerzone. Eine junge Mutter kommt mit vollen Tüten aus dem Supermarkt. Sie stellt den Kinderwagen mit ihrem Kind an einer großen, etwa einen Meter durchmessenden Betonschale mit kräftig duftenden Petunien ab, blockiert die Räder und stellt auch ihre Tüten hin. Dann dreht sie sich plötzlich um und läuft schnell in den Supermarkt zurück. Anscheinend hat sie etwas vergessen. Plötzlich krabbelt ihr kleines Kind, es ist vielleicht zwei Jahre alt, aus dem Kinderwagen und läuft fröhlich krächzend weg, in Richtung Straße. Die Mutter kommt gerade mit einer weiteren Tüte aus dem Supermarkt und sieht das. Sie ist erst starr vor Schreck, dann ruft sie laut: „Thomas, Thomas, bleib stehen“, doch der Kleine denkt gar nicht daran und läuft weiter auf die Straße zu. Es ist ein hübscher kleiner blonder Junge. Niemand ist in unmittelbarer Nähe, der ihn hätte aufhalten können. Andauernd fahren Stadtbusse und Pkws vorbei, kein Mensch denkt daran, hier die Straße zu betreten. Der Fußgängerüberweg ist ungefähr zwanzig Meter weiter vorne, und es herrscht momentan starker Berufsverkehr. Die Mutter lässt jetzt achtlos ihre Einkaufstüte fallen und läuft, laut rufend, ihrem Kind hinterher. Der Junge glaubt sicherlich, dass sie mit ihm Fangen spielen will, und wird nur noch schneller. Robert sieht das gerade rechtzeitig, als der Zwerg nur noch drei Meter von der Straße entfernt ist.
Schnell sagt er leise „stone“, und der kleine Junge fällt hin. Verdutzt schaut er sich erst um und beginnt dann zu weinen. Er hat sich nicht weh getan, er ist nur erschrocken. Seine Mutter ist sofort bei ihm, umarmt ihn überglücklich, streicht zart über seinen Kopf und bringt ihn wieder zum Kinderwagen. Mit einem Tuch wischt sie ihm sachte das Gesicht sauber und redet zärtlich auf ihn ein. Niemand hat bemerkt, dass Robert den Jungen gestoppt hat.
Das ist eine Erfahrung, die ihm völlig neue Erkenntnisse bringt. Es ist unglaublich, was das für ein gutes Gefühl ist, das er jetzt hat! Der kleine Junge wäre bestimmt von einem Auto erwischt worden, die Mutter hätte ihn nicht rechtzeitig erreichen können. Robert fühlt sich als Schutzengel, und das war er in diesem Fall auch wirklich. Zufrieden geht er wieder zum Hochhaus zurück, um weiter zu beobachten. Von den Leuten im siebten Stock hat er den ganzen Tag niemanden gesehen. Immer mehr rückt die Schule in den Hintergrund, Robert findet einfach kaum Zeit zu lernen.
Die Ereignisse und seine neu erlangten Fähigkeiten sind so spannend, dass für andere Gedanken kein Platz mehr ist. Kaum ist Robert eingeschlafen, erscheint ihm wieder ein helles, warmes Licht. Langsam erblickt er darin das Amulett.
„Robert, ich habe mit Freude gesehen, wie du den kleinen Jungen gerettet hast. Du wirst mit meiner Unterstützung lernen, deine Fähigkeiten verstärkt so einzusetzen, dass Gutes daraus entsteht.“ Nach einer kleinen Pause redet es mit angenehmer Stimme weiter: „Dadurch, dass du mich immer in dem kleinen Beutel um den Hals trägst, wirst du mit zusätzlicher Energie versorgt werden.“
Robert erwacht ganz benommen. Er fühlt sich zwar frisch und ausgeschlafen, aber das Amulett macht ihm Gedanken. Erst einmal freut er sich riesig über das Lob, das er so unverhofft bekommen hat und dann ist das Amulett einfach so erschienen, ohne das er irgendeinen neuen Plan gehabt hätte.
Eine neue Erkenntnis: das Amulett kommt auch dann zu ihm, wenn er eine gute Tat verübt hat. Aber was bedeutet die Aussage, dass er mit Energie versorg werden wird? Heißt das vielleicht, dass er nicht so schnell müde wird? Gut, er hat sich natürlich schon überlegt, wie er all seine Aufgaben bewältigen kann. Auf der einen Seite die Schule, auf der anderen Seite sein neuer Einsatz gegen Verbrechen. Es wird bestimmt nicht so zu verstehen sein, dass er jetzt einen Schub Energie bekommt und keine Ahnung hat, wohin damit. Irgendwie wird sich die Ankündigung des Amuletts schon bemerkbar machen, Robert hat nur noch keine Vorstellung wie. Jedenfalls wird er sich jetzt aufmerksam beobachten.
Robert läuft gleich nach der Schule mit Elan in den Keller und reibt sein Amulett zwischen den Fingern. Prompt erscheinen seine beiden Freunde, die Ratten. Er will auskundschaften, wohin die beiden Perser mit ihrem Jaguar fahren, und fragt Alban und Arix um Rat.
Beide Tiere raten ihm, dass wohl Tauben am unauffälligsten in der Stadt das grüne Auto verfolgen könnten. Er soll doch in diesem Fall nur nach Dulgur rufen. Einfach nur rufen, und sie wird kommen. Die Grünanlage hinter dem Haus ist eine wunderschöne Parkanlage mit dichten Büschen und vielen Bäumen. Verteilt stehen hier auch einige Sitzbänke im Schatten. In einem kleinen Teich schnattern viele Stockenten. Zwei der Bänke sind besetzt, die Leute dort füttern die Vögel mit Körnern. Robert geht tiefer hinein bis zum mit Büschen und zahlreichen Nadel – und Laubbäumen umrandeten Grillplatz, der zum Hochhaus gehört.
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