Es ist schon ein tolles Gefühl, überall ein- und ausgehen zu können, ohne angehalten zu werden. Robert kommt sich vor, als ob er unsichtbar wäre. So langsam genießt er das Gefühl, dass jeder ihm gehorcht, wenn er nur das Zauberwort sagt. Aber es ist immer wieder überwältigend, es auch zu erleben. Robert setzt sich an seinen Computer und schickt eine E-Mail an die Kripo. Er fragt, wann und wie er Hauptkommissar Werner erreichen kann. Mittlerweile sieht er schon wieder durch sein Fenster im elften Stock, dass der grüne Jaguar ankommt. Das geht ja zu, wie auf einem Frachtbahnhof, denkt er sich und eilt runter, um genauer beobachten zu können. Diesmal bleibt einer der beiden Iraner im Auto und wartet. Robert versteckt sich hinter einem Busch, er ist neugierig, was nun geschehen wird. Nach einiger Zeit kommt der zweite, Robert vermutet, dass es Nosrath ist, der Wortführer, aus dem Haus und ruft ganz erregt und heftig mit beiden Armen winkend seinem Genossen im Auto etwas Unverständliches zu. Der steigt daraufhin auch aus, schlägt die Autotür zu, und beide gehen ärgerlich diskutierend wieder in Richtung Eingang zurück. In dem Moment sagt Robert „stone“, und beide machen einen richtigen Sprung. Der eine Mann fällt hin. Sein perfekt sitzender dunkelblauer Anzug ist beschmutzt. Ärgerlich versucht er, sich die Flecken wegzureiben. Nosrath hat sich mit einem sehenswerten Kniefall gerettet, rechtzeitig konnte er sich noch mit den Händen abstützen. Beide untersuchen ganz verblüfft den Boden hinter sich. Natürlich finden sie nichts. Verärgert sprechen sie in einer unbekannten Sprache miteinander, bis der Fahrstuhl sie nach oben bringt.
Mit diesen beiden Zauberwörtern „stone“ und „remember“ ist Robert jetzt vertraut und kann schon selbstsicher damit umgehen. Nachdem die beiden Perser hochgefahren sind, geschieht lange nichts. Dann plötzlich bewegt sich die Fahrstuhlanzeige, der Aufzug kommt herunter, und die beiden Iraner steigen wieder aus. Aber sie sind längst nicht mehr so elegant wie vorher. Der dunkle Anzug des einen ist richtig zerfleddert. Seine gestreifte Krawatte sitzt schief, und eine Tasche hängt abgerissen, wie ein kleiner Flügel, am Jackett. Nosrath verdeckt mit einem Tuch Mund und Nase. Wortlos eilen beide zu ihrem Wagen, steigen ein, geben heftig Gas und verschwinden, ohne noch einmal nach oben gesehen zu haben. Anscheinend hat es in der Wohnung ziemlichen Ärger gegeben. Tatkräftigen Ärger!
Robert ruft abends Guru hinter dem Haus. Sofort kommt sie angeflogen und setzt sich auf seine Schulter. Er bittet sie, doch einmal nachzuschauen, was da oben los ist. Nach einiger Zeit kommt Dulgur zurück. Zum ersten Mal konnte sie sehen, was in der Wohnung geschieht: Zwei Mädchen sitzen in der Küche und essen. Alexander liegt auf einer Liege und wird von dem dritten Mädchen anscheinend verarztet. Sie wickelt ihm gerade einen feuchten Umschlag um den Kopf. Igor sitzt am Tisch und schreibt irgendetwas. Offenbar hat es wirklich ernsthaften Krach gegeben. Robert verabschiedet Guru und fährt nach oben. In seinem Zimmer sieht er, dass eben eine E-Mail angekommen ist. Wow, die Kripo hat aber schnell geantwortet! Hauptkommissar Werner bittet Robert um seinen Rückruf.
Die Ereignisse überschlagen sich jetzt. Am späten Vormittag des nächsten Tages kommen zwei Autos angefahren, und vier Männer steigen aus. Es sind alles Ausländer. Einer hat eine dunkle Hautfarbe, die anderen haben die typische Bräune von Südländern. Sie gehen ins Haus und fahren in den siebten Stock. Robert läuft im Treppenhaus parallel hoch. Als er in der Etage ankommt, hört er starkes Klopfen. Keiner antwortet, niemand öffnet. Die ungebetenen Besucher rufen zornig und hämmern mit den Fäusten heftig an die Wohnungstür. Plötzlich dreht sich der farbige Mann um und sieht Robert, wie er gerade noch seinen Kopf zurückzieht. Er ruft den anderen etwas zu und läuft auf die Flurtür zu. Robert rennt blitzschnell ins Treppenhaus zurück und will die Treppen runtersausen. Doch der Farbige ist schon da und streckt seine Hand aus, um ihn zu fassen. Schnell sagt Robert leise „stone“. Der dunkelhäutige Mann stolpert und fällt an ihm vorbei die Treppe runter. Anscheinend hat er sich ernsthaft verletzt, weil er stöhnend liegen bleibt. Robert drängt sich an ihm vorbei und hastet weiter. Nichts wie weg, hoffentlich hält der Verletzte die Verfolger im Treppenhaus auf. Mittlerweile sind auch die anderen drei Männer im Treppenhaus. Einer kümmert sich um den Gestürzten, die beiden anderen laufen Robert hinterher.
Der hat inzwischen schon genug Vorsprung gewonnen und läuft eben aus dem Haus. Doch der erste seiner Verfolger ist sehr schnell und kommt näher. Robert läuft hinter das Hochhaus zu den Grünanlagen, schaut zurück und sagt, als der Fremde eben um die Ecke biegt: „stone“. Augenblicklich stürzt der Mann und überschlägt sich fast dabei. Doch der andere ist auch schon da, kann eben noch dem Stürzenden ausweichen und kommt nun direkt auf Robert zugelaufen. Er streckt die Hand aus und erwischt Robert am Hemd. Rücksichtslos schlägt er mit der anderen Hand zu. Robert bekommt einen so starken Schlag auf den Kopf, dass er losgerissen wird und mit aller Wucht hinfällt. Er sieht gerade noch, wie der andere, rasend vor Wut, hinterher kommt und den rechten Fuß hebt, um zuzutreten. Robert kann im letzten Moment noch sein hilfreiches: „stone“ flüstern. Das hat ihn sicherlich gerettet, denn der Mann hat keine Chance, sein Gleichgewicht zu halten, und stürzt voll auf die Fliesen, mit denen der Weg ausgelegt ist.
Robert rappelt sich blitzschnell hoch und läuft weiter in die Grünanlage. Dicht an dem kleinen Deich ist ein flacher, verwachsener Graben, in dem er sich sofort versteckt. Lange bleibt er ruhig da liegen, erholt sich und kommt erst wieder vorsichtig zurückgeschlichen, als er niemanden mehr sieht. Ärgerlich ist, dass seine Hose jetzt fleckig ist, der Graben war doch nicht so ganz trocken. Aber er hat ihm immerhin Schutz vor dem irrsinnigen Typ geboten. Es hätte schlimmer ausgehen können. Die vier Männer haben ihn gesehen, das kann gefährlich werden. Gut, dass er sich jetzt an Herrn Werner wenden kann.
Nach dem Mittagessen ruft Robert den Hauptkommissar an und verabredet einen Termin. Die zwei Autos sind wieder weggefahren, aus der Wohnung im siebten Stock dringt kein Laut. Dadurch, dass die vier Männer tagsüber gekommen sind, wo fast alle anderen Bewohner zur Arbeit sind, konnten sie so laut sein und wurden trotzdem nicht weiter beachtet. Das sollte wohl eine Strafexpedition sein, Alexander und Igor sollten scheinbar einen Denkzettel bekommen.
Wie verabredet, trifft Robert Hauptkommissar Werner. Es ist ein schlanker, grauhaariger Mann, etwas größer als Robert. Er wirkt sehr intelligent und beobachtet Robert aus seinen grauen Augen. Niemand würde vermuten, dass dieser Mann ein Polizeibeamter ist. Er hat braune Cordhosen mit einem beigen Flanellhemd an. Darüber trägt er eine dünne Strickjacke.
„Komm, Robert, wir gehen in das Café, dort kannst du mir in Ruhe erzählen, was dich bewegt.“ Herr Werner bestellt für sich Tee mit Zitrone und für Robert eine Schokolade. Nachdem das Bestellte gekommen ist, lehnt er sich mit leisem Lächeln zurück. „So, Robert, nun erzähl mal der Reihe nach“, sagt er mit sanfter, beruhigender Stimme.
„Bei uns im Hochhaus sind in einer Wohnung im siebten Stock zwei Ausländer eingezogen. Sie kommen beide aus Kasachstan. Regelmäßig kommen einige junge Frauen zu ihnen, bleiben einige Tage und werden danach von zwei Persern mit einem grünen Jaguar wieder abgeholt. Die bringen sie dann in Richtung Frankfurt, wo die Frauen in einen anderen PKW umsteigen müssen. Das geht schon seit einiger Zeit so, aber zuletzt muss es irgendwie Ärger zwischen den Leuten gegeben haben. Nach ihrem letzten Besuch mussten die beiden Perser alleine, ohne die Mädchen, wieder wegfahren. Sie haben ziemlich kräftig geflucht, anscheinend hat es in der Wohnung auch eine Schlägerei gegeben, die beiden sahen ziemlich lädiert aus. Einer der Perser hat im Gesicht geblutet, der Anzug des anderen war an einigen Stellen zerrissen. Am nächsten Tag kamen vier andere Männer, die aber nicht in die Wohnung gelassen wurden. Sie haben total viel Radau gemacht und kräftig an die Tür geschlagen. Ich bin da auch rumgeschlichen, um mehr zu sehen. Dabei wurde ich entdeckt und konnte mich nur mit Mühe retten, drei Mann sind mir nachgelaufen, haben mich aber Gott sei Dank nicht erwischt. Dieser Vorfall hat die Männer sicher von weiteren Aktionen abgehalten. Unverrichteter Dinge sind sie wieder abgezogen. Ich vermute, dass sich in dieser Wohnung ein Mädchenhändlerring eingenistet hat.“
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