„Ihr habt es gehört …es gibt nichts mehr zu beraten.“
Betroffenes Schweigen wurde von resigniertem Nicken begleitet. Zögerlich packten sie ihre Unterlagen zusammen und gingen mit dem bitteren Gefühl einer Niederlage in den Verhandlungssaal zurück. Gottfried versuchte zwar noch durch taktisches Geplänkel Zeit zu gewinnen und alles so erscheinen zu lassen, als würde man hart weiterverhandeln wollen, stimmte dann aber letztendlich den Forderungen zu.
Am Ende sah der neue Vertrag vor, dass erst einmal zehn Kisten Champagner geliefert und zur Probe verkostet werden sollten. Bei Gefallen würden anschließend im Jahr zweitausend Kisten fällig, wobei sich die Menge der Kartoffeln aber um fünf Prozent verringern würde. Vom darauffolgenden Jahr an kämen dann noch probeweise für ein Vierteljahr hundert Austern pro Monat dazu, die bei guter Verträglichkeit automatisch zum festen Vertragsbestandteil werden sollten.
Während die Schwarzen auf einer kurzen Dauer des Vertrages bestanden, um dann bald wieder neue, noch höhere Forderungen stellen zu können, gelang es den Weißen aber die Laufzeit, und damit die Dauer des weiteren Schweigens, auf erst einmal beruhigende neunundneunzig Jahre festzuschreiben.
*
Pastor Fromm Binnichs Kopf ruckte hoch. Er war an seinem Tisch wohl ein bisschen eingenickt und durch das anschwellende Stimmengewirr vor seiner Tür aufgeschreckt. Für einen Moment wusste er gar nicht wo er war. Auf dem Flur näherten sich Schritte. Erst als er auf der schäbigen Tischplatte vor sich die halbvolle Flasche Weißwein stehen sah, kehrte die Erinnerung zurück. Das leere Glas hielt er sogar noch in der Hand. Weil heute sein Geburtstag war, alle anderen aber noch arbeiten mussten, hatte er schon mal allein mit der Feier begonnen. Und das nicht nur zum ersten mal. Obwohl er noch keine Fünfzig war, hatte er schon hundertemale seinen Geburtstag gefeiert. Denn während andere Menschen an einem sechsten, elften oder auch neunzehnten des jeweiligen Monats Geburtstag haben, war Binnich an einem Mittwoch geboren und kam nach dieser eigenwilligen Zeitrechnung auf ziemlich zweiundfünfzig Geburtstage pro Jahr. Irgendwie musste er sich ja auch trösten, denn seine Karriere als Geistlicher hatte er sich ganz anders vorgestellt.
Wegen eines billigen Formfehlers wurde er schon nach wenigen Wochen wieder aus dem Kirchendienst entfernt, nur weil er sich während seines ersten selbstgestalteten Gottesdienstes zusammen mit jedem Abendmahlsteilnehmer auch einen ordentlichen Schluck Wein gegönnt hatte. Na gut, danach konnte der Gottesdienst nicht mehr fortgesetzt werden weil die Kirche brannte. Er war während der anschließenden Predigt von der Kanzel gefallen, direkt auf die große Kerze und hatte damit seinen Kittel und den Altar in Brand gesetzt. Aber hat denn nicht jeder mal klein angefangen?
Nun war er hier für die Arbeiter auf der Bohrplattform als Seelsorger eingesetzt, was ihn aber auch nicht recht befriedigte. Eigentlich hatte er ja beschlossen, sich selbstständig zu machen und eine eigene Religion zu gründen. Schon seit langem schrieb er deshalb in jeder freien Minute an einer eigenen Bibel, was ihm zuerst auch leicht von der Hand ging. Doch als er bereits mehrere Seiten fertig hatte, tauchten plötzlich unerwartete Probleme auf und er kam nicht recht weiter. Nach großem Vorbild wollte er nämlich ebenfalls zehn Gebote zur Kernaussage seiner Religion machen, hing aber noch immer beim ersten Gebot fest, das bisher lautete: „Du sollst nicht…“ Egal wie er sich auch sein Denkorgan zermarterte, es fiel ihm wochenlang nichts ein was man nicht sollte. Zu dem im Hirn immer wieder hartnäckig auftauchenden Vorschlag „Ihr sollt keine Reichtümer anstreben. Falls ihr aber doch zu etwas kommt, könnt ihr es ja bei mir abgeben“ konnte er sich jedenfalls nicht durchringen, weil ihm das doch etwas zu plump und vordergründig erschien. Trotzdem hielt er die Grundidee für ausbaufähig, dass nämlich bei Befolgen dieser Gebote durch die noch zu findenden neuen Gläubigen sein persönliches Auskommen gewährleistet wäre. Über all diese Grübeleien hatte er dann aber schon wieder Geburtstag und die Arbeit stockte erneut. Mit einem Ruck flog jetzt die Tür auf und zwei der Arbeiter guckten herein.
„Wir haben einen Toten zu beklagen, Herr Pastor, wenn sie mal kommen könnten …“
Solche Momente mochte Binnich ganz und gar nicht. Gerade saß man noch gemütlich da, und sollte schon im nächsten Augenblick einem Dahingeschiedenen mit blumigen Worten den Weg in die Ewigkeit bahnen und auch den Zurückgebliebenen noch Trost spenden. Leise seufzend erhob er sich nickend. Er wartete ab, bis die Arbeiter wieder gegangen waren um noch schnell einen doppelten Pfefferminzschnaps hinunterzukippen, wegen des frischeren Atems. Dann warf er sich seinen gefütterten Talar für Außeneinsätze über und machte sich auf den Weg hinaus in die Kälte.
Am Rand der Bohrplattform herrschte Betroffenheit. Wasserschlieren schlängelten sich über den Taucheranzug des aufgebahrten Billbo und tropften in regelmäßigen Abständen in die kleine Pfütze die sich unter ihm gebildet hatte. Die gesamte Besatzung der Bohrinsel stand stumm um den leblosen Körper versammelt. Mit dem Schlimmsten rechnend, hatte man, nachdem Billbo selbst nach einer Stunde nicht wieder nach oben kam, einen Tauchroboter hinabgelassen um nach dem Vermissten zu suchen. Der tauchte schließlich in das Bohrloch hinunter und lieferte den Männern auf der Plattform schon bald über die installierte Kamera Bilder vom am Boden verdreht daliegenden reglosen Körper des Gesuchten. Nachdem sich der Roboter vorschriftsmäßig bekreuzigt hatte, hakte er sich am Gürtel des Gefundenen ein und tauchte zusammen mit dem schlaffen Bündel wieder auf. Hier konnte dann aber auch nur noch der Tod festgestellt werden.
Obwohl Billbo sich anderen gegenüber manchmal ziemlich kauzig gezeigt hatte, war er doch bei der Mannschaft sehr beliebt. Keiner konnte es richtig fassen. Gerade hatten sie noch über ihn gefeixt und nun sollte er tot sein? Alle waren betreten, auch Sell Berdohf, der Chef des Unternehmens.
„Der arme Kerl …“, versuchte er sich an einer kleinen Trauerrede, „…er hatte doch noch nicht mal hundert Betriebsstunden auf dem Buckel.“
Auf die verwirrten, fragenden Blicke der Arbeiter reagierte er mit einem verlegenen Räuspern und merkte erst jetzt, dass seine Trauer vielmehr dem verschwundenen Bohrer als dem Verunglückten galt. Tatsächlich hatte er sich gewünscht, der Tauchroboter hätte statt des leblosen Billbos, mit dem man ja nun so direkt nichts mehr anfangen konnte, lieber den Bohrer mit heraufgebracht. Mit dem hätte die Arbeit nun weitergehen können. Ein Toter hingegen erforderte umfangreiche Trauerrituale, die sämtliche Arbeiten erst recht noch weiter verzögerten.
Zum Glück kam in diesem peinlichen Moment Pastor Binnich auf das Deck. Mit vor der Brust verschränkten Armen trat er mit würdevollen Schritten vor den Aufgebahrten und murmelte gesenkten Hauptes unverständliche Worte. Unverständlich waren sie deshalb, weil er sie absichtlich vernuschelte und es sonst aufgefallen wäre, dass er die offiziellen Floskeln für solche Momente vergessen hatte. Die Arbeiter fielen mit gefalteten Händen in das Gemurmel ein, blieben aber ebenso undeutlich, weil auch sie keine Ahnung hatten was man in solchen Momenten sagen sollte. Andererseits wollte sich aber auch niemand als herzloser Banause outen, und so schloss sich einer nach dem anderen mit gesenktem Kopf dem Gemeinschaftsgemurmel an.
Binnich der das dumpfe, anschwellende Pseudogebet mit misstrauischen Seitenblicken unter den Augenbrauen hervor beobachtete, fragte sich zweifelnd, ob die Arbeiter mehr wussten als er. Grübelnd überlegte er deshalb wann und wie er diese Situation beenden könnte. Er wollte die tief ins Gebet versunkenen Arbeiter natürlich nicht unterbrechen und nuschelte deshalb einfach weiter. Die Arbeiter fragten sich allerdings insgeheim ebenfalls, wann wohl das Gebet des Pastors beendet sei und sie selbst wieder aufhören könnten. Immer mehr verstohlene Blicke wanderten so in der Runde herum, trafen sich mit anderen und huschten, ertappt, eilig wieder davon. Selbst der Wind kam gegen das kollektive Gemurmel nicht mehr an.
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