Sein Leben nahm einen Verlauf, von dem man sagen konnte, dass er sich in einigermaßen geordneten Bahnen vollzog – bis zu der Nacht, die an diesem Morgen zu Ende gegangen war, ohne für ihn auch nur eine Minute Schlaf bereitzuhalten, um ihm stattdessen die Begegnung mit einer Frau zu bescheren, die er im ersten Moment für eine Schlafwandlerin gehalten hatte.
Er musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen, am besten etwas, das ihn körperlich so müde machte, dass er am Nachmittag ein paar Stunden schlafen konnte. Das Nächstliegende wäre gewesen, zum Schwimmen an den Schlachtensee zu fahren, so wie er es sonst immer tat. Doch der See lag am Rande des Grunewalds, und dorthin wollte er auf gar keinen Fall, obschon kaum anzunehmen war, dass man den Toten bereits gefunden hatte. Und selbst wenn, hätte ihn das rein theoretisch nicht weiter stören müssen. Aber allein der Gedanke, sich jetzt in diese Gegend zu begeben, hatte etwas Abschreckendes für ihn. Nach einigem Ringen mit sich selbst beschloss er, trotz der Hitze ins Fitnessstudio zu gehen und sich dort auszupowern. Also packte er sein Sportzeug zusammen und stieg in seinen Wagen, weil es doch ein ganzes Stück dorthin war und ihm der Sinn jetzt nicht nach einem Fußmarsch stand.
Er besaß einen alten Alfa Romeo GTV in dem markentypischen klassischen Rot, den er sich seinerzeit von dem Honorar für sein China-Buch zugelegt hatte. Der Wagen war bereits damals für sein Alter fast sündhaft teuer gewesen, und im Lauf der Jahre hatte er mindestens noch einmal so viel Geld hineingesteckt, um ihn penibel in Schuss zu halten. Alles zusammen hätte gewiss für die Anschaffung eines neueren, schnelleren Sportfahrzeugs, entsprechend den aktuellen Standards, gereicht, doch er dachte gar nicht daran, sich von seinem Alfa zu trennen. Inzwischen trug er das berühmte H-Kennzeichen für echte Oldtimer und viele beneideten ihn um dieses Schmuckstück und nannten es „eines der letzten richtigen Autos”. Er mochte die Form von Unvernunft, die sich im Besitz eines solchen Wagens ausdrückte.
Der nächste Weg zum Studio führte nicht einmal andeutungsweise durch die Kolbestraße. Trotzdem ertappte er sich dabei, dass er genau diesen Umweg nahm. Aber als er es bemerkte, war es bereits zu spät. Er hatte den Wagen offenbar ganz unbewusst in diese Richtung gelenkt, und er erschrak förmlich, als er auf einmal mit verminderter Geschwindigkeit durch die Straße rollte, durch die er gut zwölf Stunden zuvor geschlendert war, ohne zu ahnen, wie dieser nächtliche Spaziergang enden würde. Er warf einen forschenden Blick zu dem Haus hinüber, aber da war nichts, es lag dort still und friedlich, und er trat rasch aufs Gaspedal, irritiert über sich selbst.
Im Studio stellte er ziemlich rasch fest, dass es ihm schwerfiel, seine letzten verbliebenen Energiereserven zu mobilisieren. Wenn es etwas gab, das ihn besonders unangenehm daran erinnerte, dass er den Scheitelpunkt überschritten hatte und dabei war, ein älterer Mann zu werden, dann war es die Erkenntnis, dass sich die Regeneration deutlich verlangsamte und er immer längere Pausen brauchte, um sich nach Phasen der Erschöpfung zu erholen. Dennoch zwang er sich, wenigstens eine halbe Stunde mit den Gewichten zu arbeiten und eine weitere halbe Stunde auf dem Crosstrainer zuzubringen. Danach war er nicht nur sehr müde, sondern hatte plötzlich auch großen Hunger. In einem italienischen Restaurant in der Nähe seiner Wohnung, das er normalerweise mied, da es nicht übermäßig gut war, bestellte er sich eine Portion Spaghetti bolognese und einen Salat und schlang beides herunter, wie es sonst nie seine Art war. Er aß normalerweise immer langsam und bewusst und genoss das Essen, egal, ob es sich um eine teure Mahlzeit in einem Lokal oder ein Müsli zu Hause in der Küche handelte. Doch an diesem Tag fühlte er sich so ausgelaugt und leer, dass er die Nahrungszufuhr wie eine dringliche Rettungsmaßnahme empfand, als müsse ein leerer Tank aufgefüllt werden.
Es war heller Nachmittag, als er sich schließlich ins Bett legte und sofort einschlief. Er schlief bis in den Abend, und womöglich hätte er gleich durchgeschlafen, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren und herauszufinden, welch lästiges Geräusch da sein Trommelfell malträtierte.
Auf schlaftrunkenen Beinen taumelte er in den Flur und langte nach dem schnurlosen Apparat. Doch nur Sekunden, nachdem er ihn von der Station genommen hatte, wurde die Verbindung am anderen Ende der Leitung auch schon unterbrochen. Ungefähr eine Viertelstunde später wiederholte sich das Ganze noch einmal.
„Ich sage dir, das war vielleicht ein Horror. Wir sind mitten in ein Gewitter gekommen, schon kurz nach dem Start. Und hier ist immer noch diese schreckliche Hitze.”
Sie schob sich eine feuchte blonde Strähne aus der Stirn. Ihr Gesicht war gerötet und wies ein paar dieser hektischen Flecken auf, die sie manchmal bekam, und sie verzog es bei dem vergeblichen Versuch, sich etwas Abkühlung zu verschaffen, indem sie den Ausschnitt ihrer verschwitzten weißen Bluse in einer hilflosen Geste hin und her bewegte.
„Ich muss unbedingt duschen und mir frisches Zeug anziehen”.
„Möchtest du erst zu dir oder gleich zu mir?”, fragte er, ihre schwere Reisetasche über der Schulter und den ebenso schweren Koffer in der linken Hand.
„Gleich zu dir. Ich habe genug dabei.”
Als er die Sachen im Kofferraum verstaute, hatte er unwillkürlich die Szene vor Augen, wie er und Julia Gerlach den toten Oliver Rensing erst ein- und später wieder ausgeladen hatten.
„Und? Wie ist es mit dem dem Job gelaufen?”, fragte er, nachdem sie eingestiegen waren. Sie klappte den Spiegel herunter, musterte sich, verzog abermals das Gesicht, holte das Etui mit dem Schminkzeug aus ihrer Handtasche hervor, überlegte kurz und steckte es wieder weg, wobei sie mehr zu sich selbst murmelte: „Das bringt's jetzt auch nicht.”
An ihn gewandt erklärte sie: „Auch Horror. Ich bin wirklich froh, wenn wir diesen Mist hinter uns haben. Es nervt. Diese Fernsehleute dort, ich sage dir, das sind vielleicht Typen. Ich habe ein paarmal gedacht, was du wohl machen würdest, wenn du dich mit solchen Leuten abgeben müsstest. Aber das Ende ist ja nun allmählich abzusehen, und ich hoffe, dass wir doch irgendwie wieder auf eine andere Schiene kommen, weg von diesem Unterschichtenmüll.”
Der Wagen hatte keine Klimaanlage, nicht einmal elektrische Fensterheber, und sie mussten die Scheiben herunterkurbeln, um den Fahrtwind hereinzulassen.
Sie streifte ihren leichten, beigefarbenen Rock so hoch, dass ihre nahezu weißen Beine – sie hatte empfindliche Haut und vertrug die Sonne nicht gut – völlig frei waren und er die Ränder ihres Slips sehen konnte. Er schaute nur aus den Augenwinkeln hin und wandte den Blick gleich wieder ab.
„Und du? Was hast du getrieben in den letzten Tagen?”, wollte sie wissen. „Du warst am Telefon etwas komisch.”
„Ich habe nicht viel gemacht, nichts weiter Besonderes. Was soll man bei dieser Hitze auch schon großartig anfangen? Sie setzt mir ziemlich zu”, antwortete er.
„Jedenfalls bin ich froh, wieder hier zu sein, ich freue mich richtig auf unser Wochenende”, sagte sie und tätschelte sein Knie. Sie hatte bereits allerlei Pläne gemacht, aber er hörte ihr kaum zu.
Kurz nachdem die Tür seiner Wohnung hinter ihnen ins Schluss gefallen war und noch bevor er Tasche und Koffer abgesetzt hatte, klingelte das Telefon. Er ließ beides gleichzeitig zu Boden fallen und nahm den Apparat von der Station.
„Hallo? Hallo? Hier ist Julia.”
Und schon klickte es in der Leitung und die Verbindung war unterbrochen.
„Wer war denn das?”, fragte Eva.
„Nichts, niemand. Da hatte sich wohl jemand verwählt.”
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