Als er wieder einsteigen wollte, stand sie auf einmal vor ihm und ließ sich gegen ihn fallen. Sie drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge.
„Bitte einmal ganz fest halten, ganz fest”, flüsterte sie, und dann: „Danke, danke.”
„Danken Sie mir nicht zu früh”, sagte er, während sie sich voneinander lösten, und bereute es sofort angesichts ihres verängstigten Blicks.
Auf der Rückfahrt sprachen sie wenig. Er fuhr einige Umwege, möglichst weit weg vom Grunewald. An einer Baustelle, vor der ein übervoller Schuttcontainer am Straßenrand stand, hielt er an und stopfte die Decke zwischen die Masse aus Mörtelresten, Steinen, leeren Zementsäcken und verschmutzten Plastikplanen.
Als sie in Lichterfelde auf einer der Kanalbrücken waren, bremste er abermals, wartete, bis ein Auto fort war, das gerade vorbeikam, nahm das Handy und das Messer aus der Tüte und warf beides hinab in das dunkle träge Wasser. Den Fahrschein zerfetzte er, sodass die Schnipsel hinterherregneten. Den Schlüsselbund ließ er einige hundert Meter weiter in einen Gully fallen. Jetzt befand sich nur noch Oliver Rensings Brieftasche in der Tüte. Er zog sie heraus, schob sie in seine Jackentasche, zerknüllte die Tüte und steckte sie an einer Bushaltestelle in den Abfalleimer.
Sie hatte alles, was er tat, mit aufmerksamen, unsicheren Blicken verfolgt. Er selbst betrachtete sein Vorgehen als wahrscheinlich übertrieben akribisch. Doch wenn er sich schon auf all dies eingelassen hatte, wollte er auch ganz sicher gehen und keinen unnötigen Fehler machen.
„Was haben Sie denn mit der Brieftasche vor?”, fragte sie.
„Nur Geduld”, sagte er etwas schroff, weil sich in ihm gerade ein unbestimmtes Gefühl von Bitterkeit und Unbehagen regte, “das werden Sie dann schon noch sehen.”
Als sie wieder bei ihrem Haus ankamen, begann bereits das Morgendämmern mit ersten zaghaften Ansätzen den Himmel zu färben.
Sie weigerte sich, auszusteigen.
„Ich kann das nicht, ich kann jetzt nicht in dieses Haus”, schluchzte sie unvermittelt auf und klammerte sich an seinen Arm.
„Na, na, was soll denn das”, sagte er mit einem rauen Klang in der Stimme. „Es ist doch jetzt gut. Und Sie müssen doch sowieso wieder dorthin zurück. Es nützt überhaupt gar nichts, wenn Sie sich jetzt dagegen sperren.”
„Kann ich nicht mit zu Ihnen? Nur für diese paar Stunden, bis es richtig Tag ist?”
„Nein, tut mir leid, das geht nicht, auf keinen Fall”, antwortete er entschieden.
Sie gab plötzlich einen glucksenden Laut von sich, der wie eine Mischung aus Jammern und einem kleinen ratlosen Lacher klang und sagte leise:
„Irgendwie ist das alles doch völlig verrückt. Ich weiß überhaupt gar nicht, wer Sie sind, nur, dass Sie Robert Kessel heißen. Sind Sie eigentlich auch verheiratet?”
„Kessler”, verbesserte er sie. „Nein, bin ich nicht, aber ich lebe in einer festen Beziehung.”
Erst jetzt musste er wieder an Eva denken. Es war nur gut, dass sie zurzeit nicht da war, sondern aus beruflichen Gründen für einige Tage nach Köln gefahren war. Ob sie sonst jetzt bei ihm zu Hause gewesen wäre, war allerdings fraglich. Sie hatte ihre eigene Wohnung in Potsdam, wo sie bei einer Filmproduktionsfirma arbeitete, und häufiger als zweimal pro Woche blieb sie fast nie über Nacht bei ihm, zudem meist am Wochenende. Rein theoretisch wäre es also möglich gewesen, Julia Gerlach mit in seine Wohnung zu nehmen – wenn nicht die übrigen Hausbewohner gewesen wären.
Er wohnte in einer Altbauwohnung in einer der großen, alten, für das Viertel typischen Gründerzeitvillen, etwa zwanzig Gehminuten vom Haus der Gerlachs entfernt, und er verstand sich mit den Mietern der übrigen vier Wohnungen gut. Aber in dem Haus wurde ziemlich viel geredet. Normalerweise störte er sich nicht daran. Doch was geschehen würde, wenn er dort plötzlich mit einer fremden Frau erschiene, einer anderen als Eva, konnte er sich lebhaft vorstellen. Bestimmt würde es irgendjemand mitbekommen, spätestens, wenn die Frau das Haus wieder verließe. Und schon würde das Getuschel losgehen.
„Können Sie denn wenigstens noch mit zu mir reinkommen?”, fragte sie schüchtern. „Nur für eine Weile, ich kann jetzt einfach nicht allein sein.”
„Ja, das lässt sich machen”, sagte er. Das hatte er ohnehin vorgehabt, um sich noch einmal zu vergewissern, dass es auch wirklich nirgendwo mehr irgendwelche Spuren gab. Sie atmete erleichterte auf.
Nachdem er den Wagen in die Garage gefahren hatte und sie wieder im Wohnzimmer saßen, fragte er sie, wann denn ihr Mann zurückkomme.
„Freitag, also übermorgen...ach nein, wir haben ja schon Donnerstag. Ich bin ganz durcheinander, ich weiß gar nichts.”
Sie ließ sich in ihren Sessel sinken, holte wieder ihre Zigaretten aus der Handtasche und bot auch ihm eine an. Er griff auch diesmal zu und inhalierte so tief, dass seine Lungen fast schmerzten. Aber er nahm sich vor, es dabei zu belassen und nicht wieder damit anzufangen. Auch nicht mit dem Trinken. Von dem Wein vorhin merkte er schon gar nichts mehr. Er hatte ihn fast vergessen.
„Sie sollten jetzt duschen oder baden und sich dann schlafen legen. Schlafen Sie so lange wie möglich”, sagte er. „Am besten nehmen Sie noch mal etwas zur Beruhigung”.
„Ja ja, zur Beruhigung. Julia nimmt etwas zur Beruhigung und schon wird alles gut. Nichts ist gut, gar nichts”, stieß sie in einem unvermittelt seltsam höhnischen Ton hervor, um dann resigniert, mit kleiner Stimme fortzufahren: „Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, wovon Sie reden, weil Sie so etwas selbst nicht kennen. Ich habe Angst, schreckliche Angst, schon seit längerem, immer wieder, nicht nur heute, nicht nur wegen dieses......dieses Unglücks. Es sind solche Panikattacken, die mich immer wieder wie aus heiterem Himmel überkommen, verstehen Sie? Nein, Sie verstehen es bestimmt nicht, niemand kann das verstehen, der es noch nicht selbst erlebt hat. Es ist schrecklich, einfach nur schrecklich.”
Sie schaute ihn ähnlich an wie schon vorhin, als sie zum ersten Mal hier gesessen hatten, so als versuche sie zu ergründen, wer er eigentlich sei.
„Sie sind bestimmt jemand, der gar nicht weiß, was das Wort Angst überhaupt bedeutet.”
„Oh doch, seien Sie unbesorgt, das weiß ich ziemlich genau”, entgegnete er knapp. Dann ließ er sich von ihr erneut etwas zum Putzen bringen und bat sie außerdem um eine Schere.
„Gehen Sie nur, gehen Sie ins Bad, ich mache das hier schon”, sagte er und ignorierte ihren fragenden Blick.
Nachdem sie hinauf ins Bad gegangen war, nahm er sich noch einmal den Boden in der Diele und in der Küche vor, widmete sich besonders intensiv der Türschwelle, wischte den Glastisch im Wohnzimmer ab, spülte in der Küche alle Gläser sorgfältig aus und rieb auch sämtliche Türklinken ab. Anschließend beschäftigte er sich ausgiebig mit Oliver Rensings Brieftasche. Er zog die Karten und den Personalausweis heraus und zerschnitt alles in kleine Streifen und Stücke. Auch die Brieftasche zerschnitt er, was sich als ziemlich mühselig erwies, denn die Schere war nicht richtig scharf und das Leder sehr zäh.
Als er mit dieser Arbeit endlich fertig war, trug er alles zusammen ins Gäste-WC gegenüber der Kellertür und warf es in die Toilette. Er musste mehrmals die Spülung drücken, bis auch die letzten Überreste all dessen, was er von dem Toten noch bei sich getragen hatte, mit einem Gurgeln hinabgesogen worden waren.
Die Idee zu dieser definitiven Entsorgungsmethode war ihm erst gekommen, als sie schon in die Kolbestraße eingebogen waren. Zweifellos konnte man es als pietätlos bezeichnen, die persönlichen Hinterlassenschaften eines Menschen ins Klo zu spülen. Doch wesentlich entwürdigender als alles Vorherige war das auch wieder nicht, was sowohl für den Toten galt als auch für ihn, Robert Kessler, und sein Tun, wie ihm abermals mit einer dunklen Aufwallung zum Bewusstsein kam. Jedenfalls war jetzt nichts mehr übrig, was an den toten Mann hätte erinnern können – nichts, bis auf die Geldscheine und die Münzen, die er beiseite getan hatte, bevor er mit seinem Zerstörungswerk begonnen hatte. Geld war schließlich neutral. Es gab nichts Neutraleres, nichts Unpersönlicheres als Geld. Er legte alles auf den Glastisch – es waren genau 93,65 Euro.
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