Robert Kessler, sagte er stumm zu sich selbst, nach Lage der Dinge hast du es hier mit einer anderen Art von Geschichte zu tun, als du sie bisher je erlebt hast, mit einer völlig anderen.
Obschon er keinen Zweifel daran hatte, dass der Mann tot war, beugte er sich über ihn und befühlte den Hals, der noch warm war, aber keinerlei Anzeichen eines Pulsschlags erkennen ließ. Die Frau stand zitternd an die Wand neben der Küchentür gedrückt, knetete ihre Hände und stammelte vor sich hin:
„Oh Gott, was soll ich tun? Ich habe Angst, so furchtbare Angst. Bitte helfen Sie mir doch.”
„Jetzt beruhigen Sie sich doch erst mal”, sagte er wieder, mit einer Stimme, die seinen eigenen Ohren fremd war, und kam sich dabei wie ein Narr vor. „Und, bitte, ziehen Sie sich etwas an.”
Er konnte es nicht mehr ertragen, immerzu ihren nackten Unterleib ansehen zu müssen und die Brüste, die sich deutlich unter dem dünnen Hemd abzeichneten. Sie sammelte die Kleidungsstücke vom Boden auf, warf sie aber gleich wieder in eine Ecke und ging auf unsicheren Beinen in einen der übrigen drei Räume, die von der Diele abzweigten, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Er hörte sie unter leisem Wimmern an einem Schrank hantieren. Als sie wenig später wieder herauskam, trug sie eng sitzende Jeans, ein schwarzes T-Shirt und weiße Sneakers.
„Können wir uns irgendwo setzen?”, fragte er, bemüht, so normal wie möglich zu klingen. Sie öffnete die mittlere der Türen, schaltete das Licht an und führte ihn in eines der Wohnzimmer, das durch eine Flügeltür mit einem weiteren verbunden war. An den Wänden hingen einige großformatige, wild-bunte Gemälde. Die Einrichtung – ein Designer-Sofa, drei zerbrechlich wirkende Korbsessel, ein Glastisch sowie ein in die Wand eingelassener Flachbildschirmfernseher mit integrierter Musikanlage – wirkte teuer und war für seinen Geschmack eine Spur zu absichtsvoll minimalistisch gehalten. Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine halbvolle Rotweinflasche. Sie ließ sich in einen der Sessel fallen, stand aber sofort wieder auf und fragte ihn, ob er etwas trinken wolle. Ohne seine Antwort abzuwarten, verschwand sie im Nebenzimmer und kehrte mit einem frischen Glas zurück. Es war mehrere Jahre her, dass er zuletzt Alkohol zu sich genommen hatte, und er zögerte einen Moment. Dann füllte er das Glas, trank zwei tiefe Züge und ergab sich dem Gefühl, das vom Magen her in einer warmen Welle durch seinen Körper und seinen Kopf rieselte.
„Wer ist der Mann? Und weshalb haben Sie ihn umgebracht?”, fragte er. „Das haben Sie doch, oder?”
Statt etwas zu erwidern, kauerte sie sich mit angezogenen Beinen in ihren Sessel, vergrub das Gesicht in den Händen und brach in ein hemmungsloses Weinen aus.
„Bitte, Sie müssen...Sie müssen mir helfen”, stotterte sie schluchzend, “Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir helfen! Bitte!”
„Wer ist der Mann?”, wiederholte er.
„Ein früherer...jemand, mit dem ich mal zusammen war, früher, eine ganze Zeit bevor ich geheiratet habe...Er hat mich....er wollte mich...Irgendwie musste ich mich doch wehren, ich meine, ich musste ihn doch davon abhalten, dass er mich....Aber ich wollte doch nicht, dass er stirbt...Es war ein schrecklicher Unfall, ein Unglück.”
Ihre Worte gingen beinahe in dem Schluchzen unter und waren kaum zu verstehen. Plötzlich sprang sie auf.
„Wo ist denn nur meine Handtasche? Ich brauche meine Handtasche. Oh Gott, ich glaube, sie ist in der Küche auf dem kleinen Tischchen. Aber ich kann doch jetzt nicht dort hineingehen.”
Er stand auf und durchquerte die Diele und stieg über den Toten hinweg, was nicht ganz einfach war. Als er ihr die Handtasche reichte, begann sie sofort mit hastigen Händen darin zu kramen und zog eine Schachtel Valium hervor. Sie drückte drei Tabletten aus der Palette, warf sie sich in den Mund, schüttete etwas Wein in eines der benutzten Gläser und spülte sie damit hinunter.
„Um Himmels willen, hoffentlich war das jetzt mein Glas und nicht seins”, sagte sie erschrocken, als sie es absetzte, und begann erneut zu weinen.
„Können Sie mir vielleicht, bitte, der Reihe nach erzählen, was eigentlich genau passiert ist?”, sagte er mit leisem Drängen und nahm sich den restlichen Wein.
„Okay, gut, okay, ich versuche es”, begann sie stockend. „Wo fange ich an? Also, er war ein alter Bekannter. Ich hatte ihn lange nicht gesehen. Er rief mich heute Nachmittag an und fragte, ob er am Abend bei mir vorbeischauen könne. Ich war ganz froh darüber, denn ich bin nicht gern allein, müssen Sie wissen. Und ich bin oft allein, weil mein Mann geschäftlich sehr viel unterwegs ist. Ich lade mir dann manchmal eine Freundin ein oder bin bei ihr, auch über Nacht. Ich hasse es, allein zu sein. Jedenfalls war ich ganz froh, als er heute anrief. Ich meine, wir hatten uns damals in Frieden getrennt, und was sprach schon dagegen, einen alten Bekannten oder Freund oder was weiß ich wiederzusehen? Das ist doch an sich nichts Schlimmes, oder?”
In ihrer Stimme war jetzt etwas sehr Junges, das ihn berührte. Sie schwieg eine Weile, als erwarte sie eine bestätigende, beschwichtigende Antwort, und schaute ihn dabei an, als nehme sie ihn jetzt überhaupt zum ersten Mal richtig wahr. Die Farbe ihrer Augen changierte im Lampenlicht zwischen Blau und Dunkelgrün. Er fragte sich, wie alt sie sein mochte und schätzte sie auf maximal dreißig. Und er fragte sich, was sie wohl über diesen Mann dachte, der ihr gegenüber saß und wesentlich älter war als sie; in vier Monaten würde er sechsundfünfzig werden. Er selbst hätte sich schwergetan mit einer Selbstbeschreibung, obwohl er schon so viele und so vieles beschrieben hatte. Soweit es nur die Äußerlichkeiten betraf, war es noch relativ einfach: Er war mittelgroß und schlank, dabei aber ziemlich kräftig und insgesamt in akzeptabler Form, weil er auf dergleichen achtete und mindestens zwei Mal die Woche ins Fitnessstudio ging, hatte kurzes graues Haar und ein schmales Gesicht mit tiefliegenden graublauen Augen, die manchmal etwas müde, meistens aber wach und neugierig blickten und er legte im Allgemeinen Wert auf seine Kleidung. An diesem Abend trug er schwarze Jeans, ein anthrazitfarbenes Polohemd und eine leichte Jacke aus dunklem Leinen und dazu weiße Turnschuhe, was einen gewissen Stilbruch darstellte; aber er hatte ihn sich gestattet, da es bei seiner einsamen, späten Wanderung durch die Straßen nicht so darauf ankam.
Seine Freundin Eva amüsierte sich bisweilen über seine Eitelkeit und nannte sie kurios angesichts der Tatsache, dass er doch schließlich in all den vielen Jahren, in denen er Gott weiß wo in der Welt unterwegs gewesen war, bestimmt nie Wert auf seine Kleidung gelegt habe. Vielleicht kompensiere er ja einen gewissen Nachholbedarf. Irgendwie passe das jedenfalls nicht richtig zu ihm, da er bekanntlich allem Materiellen wenig Bedeutung beimesse. Manchmal nannte sie ihn einen unverbesserlichen idealistischen Träumer.
Bei dem Gedanken an Eva wurde ihm unwohl. Was sie sagen würde, wenn sie ihn hier sitzen sähe, wollte er sich lieber gar nicht ausmalen.
„Das ist doch im Grunde nichts Schlimmes gewesen, oder?”, wiederholte die Frau im Sessel gegenüber. „Ich konnte doch nicht ahnen, wie das Ganze dann laufen würde.”
Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Ihre Stimme klang inzwischen um einiges gefasster, offenbar tat das Valium seine Wirkung. Sie schilderte, wie sie beide zunächst im Wohnzimmer gesessen und sich unterhalten hätten. Ganz normal und unverfänglich sei das gewesen. Irgendwann sei sie dann in die Küche gegangen, um eine Kleinigkeit zum Essen anzurichten.
„Und auf einmal stand er dann vor mir. Er hat mich gepackt. Ich habe versucht, mich loszureißen, aber er ist....er war...so viel stärker, Sie müssen ihn sich ja nur ansehen, ein großer, kräftiger Mann. Ich habe trotzdem versucht, mich zu wehren, aber in der Diele hat er mich wieder gepackt und er fing an, mir die Kleider vom Leib zu reißen. Irgendwie waren wir dann plötzlich wieder in der Küche, und er drückte mich gegen die Spüle. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, vor lauter Angst, und irgendwie bekam ich dann dieses Messer zu fassen, das noch auf der Spüle lag, weil ich damit Tomaten geschnitten hatte. Wissen Sie, ich wollte Mozzarella mit Tomaten machen...”
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