Über viele Jahre wurde immer derselbe Film gezeigt, mit dem den Sklaven Sauberkeit und Hygiene eingebläut werden sollte. Zunächst forderte ein autoritärer Mann in Befehlsform absolute Reinlichkeit. Der Mann auf dem Fenster war steinalt und weißhaarig, was die Sklaven nicht kannten, war doch kaum einer von ihnen älter als zwanzig Jahre. Der Alte weißhaarige war auch hager und trug zudem eine fremde Kleidung, welche ihn außerhalb der Mauer als reich kennzeichnete. Der Mann machte so einen befremdlichen und wichtigen Eindruck, dass ihn die Sklaven, wenn sie wissen würden dass es so etwas gab, für einen Gott gehalten hätten.
Der Film zeigte, wie die Toiletten sauber gehalten werden sollten und wie die Räume, Matratzen, Krüge, Geschirr und Kleidung zu reinigen sind. Der autoritäre Mann schrieb den Sklaven vor, wie oft sie ihre Hände waschen mussten, wann sie zu Duschen hatten, wobei das Wasser auch im Winter höchstens fünfundzwanzig Grad warm war, und log ihnen vor, wie wichtig eine jährliche Rasur von Kopf und Bart seien. Auch Haare waren ein wichtiger Rohstoff. Immerhin wussten sie was ein Jahr war, das fing immer an, wenn die Tage wieder länger wurden.
Gegen Ende des Films, Halmschor sah da immer weg, weil ihm das zu peinlich war, handelte der Film von der Hygiene im Geschlechtsbereich. Ungerührt konsumierten die Sklaven die Reinigungsvorschriften. Ob sie überhaupt Liebe empfinden konnten? Geschlechtstrieb war auf jeden Fall vorhanden, welchem oft ungeniert auch tagsüber hinter den Fenstern nachgegangen wurde. Sicher spürten sie Sympathien und Antipathien, aber so richtige Liebe wie bei richtigen Menschen? Wer die Vorschriften nicht einhielt, schloss der Mann im Film, konnte übel Krank werden, sogar daran sterben und würde nie in ein Dorf für Alte können. Das Dorf für Alte wurde vor den Sklaven in etwa als Himmel aufgebaut, wo sie jede Woche zum Frisör durften, das Duschwasser doppelt so warm, die Matratzen dreimal so dick und das Essen und Trinken viermal so gut sei. Halmschor bezweifelte, ob alle auf vier zählen konnten.
Die Sklaven zogen sich jedes Mal bereitwillig und andächtig den Film rein, auch wenn es immer der Selbe war, blieb er in ihrem Leben das Hauptereignis. Das Ereignis bekam allerdings jedes Mal einen anderen Anhang. Einzelne Arbeiter hatten den Auftrag die Sklaven bei der Arbeit zu filmen. Deshalb lief im Anschluss noch ein Film, auf dem sie sich und andere erkennen konnten. Wenn es gelungen war jemand bei einem Missgeschick zu filmen, zeigte sich auch, dass die Sklaven Humor hatten, oder Schadenfreude. Wenn jemanden der Karren umfiel, sich zwei bei der Arbeit behinderten oder jemand bei nassem Wetter auf dem Feld ausrutschte und auf seinen Hintern plumpste, freuten sich die Sklaven ausgiebig und hatten für Wochen Gesprächsstoff.
Zusätzlich wurden im Geburtshaus noch Lehrfilme für werdende Mütter gezeigt, damit die Geburten möglichst reibungslos verliefen. Das Syndikat wollte jegliche Kindersterblichkeit vermeiden. Über Landwirtschaft gab es keine Lehrfilme. Da immer Kinder dabei waren, wurde ihnen das Wissenswerte auf dem Feld vermittelt, sie wuchsen sozusagen unmerklich in die Landwirtschaft hinein.
In jedem Dorf befand sich also eine große Halle für den Umschlag der Lebensmittel und Vorräte, eine kleinere für Werkzeuge und Handkarren, ein Geburtshaus, aber kein Versammlungshaus, kein Rathaus, die Selbstverwaltung entfiel. Es gab jedoch einen Friedhof. Ab und zu, wenn auch selten, starb doch einmal ein Kind, erlitt doch ein Erwachsener trotz seiner jungen Jahre einen Herzinfarkt, wurde doch jemand in jungen Jahren unheilbar krank und lag dann dahinsiechend in seiner Baracke, bis ihn das Zeitliche segnete. Das war dann weniger ein harter Verlust, als vielmehr harte Arbeit, weil in den steinigen Boden eine Grube gegraben, die schwere Leiche herangekarrt und darin versenkt werden musste. Die Beerdigung verlief ganz ohne Brimborium und Trauer, Anwesende waren eher neugierig ob die Leiche tatsächlich tot war, oder ob sie sich noch einmal regte, wenn die ersten Schollen auf Brust und Gesicht geworfen wurden. Damit die Leichen ausversehen nicht wieder ausgegraben wurden, mussten die Gräber mit Steinen gekennzeichnet werden. Inschriften, Blumen, Kreuze oder sonst was, waren unbekannt.
Die Beamten für Sklavenbetreuung waren Geheimnisträger und somit von den anderen Beamten im Land isoliert, denn was hinter der Mauer getrieben wurde, durfte auf gar keinen Fall an die Öffentlichkeit. Und die ausländischen Nachbarn durften erst recht nicht erfahren, was genau innerhalb abging. Natürlich kannten alle Europäischen Regierungen die ummauerten Täler anhand von Luftaufnahmen, was ihnen aber als Umerziehungs-Straf-und Arbeitslager verkauft wurde. Die Kollegen der anderen beiden Sklaventäler, falls es die tatsächlich gab, lernten sie aber nie kennen. Aber alle drei Einheiten aus Halmschors Tal trafen sich immer zu einem Sommerfest und zu einer Jahresabschlussfeier. Auf einer dieser Feiern traf Hal wieder auf den Arzt, der ihn zur Mitthilfe im hinteren Dorf rekrutiert hatte.
„Ah, Herr Doktor Albritz, mit ihnen verbinde ich angenehme Erinnerungen“, begrüßte er den Alten. „Wenn sie mal wieder jemanden brauchen, können sie gerne auf mich zurückgreifen.“
Der Arzt lächelte. „Hatte es ihnen dahinten so gut gefallen?“
„Ich glaube, ich habe etwas für große Bäume übrig. Meine Freizeit verbringe ich fast nur noch im Nationalpark Schwarzwald.“
„Auch das ummauerte Tal gehört zum Nationalpark. Jenseits der Mauer ist Bannwald“, wusste der Mediziner.
„Wissen sie wie alt diese Mauer ist? Muss man sich über ihre Standfestigkeit Gedanken machen?“ tat Halmschor besorgt.
Der Alte sah zu Boden, blickte auf, sah um sich und meinte schließlich in gesenkter Lautstärke: „Die hat, so glaube ich, an die hundert Jahre auf dem Buckel. Aber das Material ist sehr gut, das hält“, grinste er dann.
„Hundert Jahre?“ presste Halmschor ungläubig hervor. „Da hat bestimmt kein Lebender den Anfang mitbekommen.“
„Am Anfang stand ein Elektrozaun, habe ich erfahren“. Dr. Albritz hob die Augenbrauen. „Sie erzählen es aber nicht weiter?“ fragt er dann.
„Um Himmels willen, nein“, raunte Halmschor leise. „Aber es hat sich doch bestimmt schon jeder gefragt wie das anfing, mit der Sklavenhaltung. Wo bekommt man nur eine Menschenmasse her, die das mit sich machen lässt?“
Man sah Dr. Albritz an, dass er es wusste und man sah ihm an, dass er mit sich rang, ob er sein Wissen Preis geben oder es doch lieber mit ins Grab nehmen sollte. Sein Mitteilungsbedürfnis war größer.
„Damals, in der anarchistischsten Phase Alemannias, gingen Reihenweise die menschlichen Werte verlustig. Zugegeben, die Menschen waren früher sehr zimperlich, und Gefühlsduselei war groß angesagt. Als das Konsortium die Macht in Baden an sich riss, ging es richtig zur Sache, für Soziales hatten die kein Geld, oder wollten dafür keines ausgeben.“ Der Alte dachte nach, wie deutlich er werden konnte. „Es blieben also allerlei zivilisatorische Errungenschaften auf der Strecke. Zum Beispiel gab es damals drei Weißenhäuser oder Kinderheime oder sowas ähnliches im Land. Mangels Geld und Zuneigung, gammelten und hungerten die Kinder Jahrelang vor sich hin, bis jemand die rettende Idee hatte, wie mit ihnen Geld zu verdienen sei. Die Kinder konnten Blut und Organe liefern. Sie wurden natürlich immer älter und bekamen Nachwuchs, und in dieser Phase müssen sie dann irgendwann hinter den Zaun gekommen sein.“
„Und weshalb gibt es keine Schwarzhaarigen?“
Der Arzt dachte dasselbe wie Halmschor: Die Kleine lockige. „Die sind vielleicht aus irgendeinem Grund aussortiert worden, leben vermutlich irgendwo anders“.
Widerwillen gruselte es Halmschor. Er bemerkte dann: „Das ist nun schon einige Generationen her. Am Überliefern scheinen die Sklaven kein Interesse zu haben. Die jetzigen wissen nichts von Kinderheimen, Schulen, Büchern, kennen weder Straßen, Straßenbeleuchtung noch Autos, haben noch nie etwas von Sport und Krieg gehört. Echt seltsam.“
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