Peter Becker feuerte den Grill an, holte zwei Biere aus dem Kühlschrank und brachte die Whiskyflasche mit, die Männer setzten sich auf die Terrasse, genossen den Blick auf den See und tranken. Ihre Frauen schwatzten in der Küche und wenn das Holzkohlefeuer kräftig genug wäre würde er die Bratwürste auflegen. In dieser Abendstimmung war er eigentlich trotz der Gedanken die sie vorhin gewälzt hatten zufrieden. Wenn er seine Situation betrachtete gab es wenig Grund für ihn für Pessimismus, seine berufliche Entwicklung war ohne Brüche erfolgt, mit seiner Frau verband ihn eine jahrelange Partnerschaft die ihm viel bedeutete, ohne dass er es so zum Ausdruck brachte, die Kinder machten wenig Sorgen, der Lebensstandard ihrer Familie wuchs langsam aber kontinuierlich, was wollte er mehr. In drei Jahren würde der Abteilungsleiter in Rente gehen, auf seine Nachfolge machte er sich durchaus Hoffnungen.
Die Frauen hantierten in der Küche und nach dem Abendbrot tranken sie noch etwas zusammen, dann fuhr der Abteilungsleiter mit seiner Frau nach Hause, er selbst würde mit Gerda das erste Mal in ihrem Haus übernachten. Er fühlte sich schläfrig, das gute Essen und der Alkohol zeigten ihre Wirkung. Peter Becker war innerhalb von 5 Minuten eingeschlafen.
Sorgenkinder, Berlin, 1978
Die Geschwister nervten sich gegenseitig. Dieter Becker büffelte jede freie Minute, denn das Zeugnis der achten Klasse würde darüber entscheiden, ob er auf die Erweiterte Oberschule gehen konnte und er wollte mindestens einen Notendurchschnitt von 1,5 erreichen. In Physik musste er noch einiges tun und Biologie stand ebenfalls noch auf der Verbesserungsliste, mit allen anderen Noten lag er in seinem persönlichen Plan. Hanna war mit Mühe und Not in die fünfte Klasse gekommen, eigentlich verdankte sie es ihrem Vater der mehrfach mit ihrer Klassenleiterin gesprochen hatte und ihr erklärt hatte, dass bei dem Mädchen der Knoten doch schon noch platzen würde. Sie zählte zu den leistungsschwächsten Schülern in der Klasse und ihr Vater hatte ihr ein strenges Übungsprogramm vorgegeben, doch das Kind war nicht in der Lage mehr als zehn Minuten konzentriert an einer Aufgabe zu sitzen. Dementsprechend sprunghaft ging sie vor und die Ergebnisse waren schlicht und ergreifend katastrophal, denn es gab kaum eine Aufgabe, die sie komplett fertig stellte. Vielmehr hatte sie es sich angewöhnt bei anderen abzuschreiben, aber in den Leistungskontrollen und Arbeiten kontrollierten die Lehrer gründlicher, und über eine vier kam sie nicht hinaus.
Peter Becker war mit seinen Kindern unzufrieden. Bei seinem Sohn störte ihn diese Schlappheit wie er es für sich nannte, seine Tochter hielt er ganz klar für einen hoffnungslosen Fall und bei ihr sollte es nur darauf ankommen, dass sie die Schule bis zur zehnten Klasse schaffte, möglicherweise würde sie nur bis zur achten kommen. Dieter würde der Sprung auf die Erweiterte Oberschule gelingen, die Chancen für das Mädchen sah Peter nur in einer mechanischen Arbeit, etwa der einer Bandarbeiterin. Wie so oft fragte er sich, warum seine Gene bei den beiden nicht durchschlugen, sie waren so ganz anders als er, unentschlossen, verweichlicht und nicht zielstrebig. So sah er es jedenfalls.
Hannas Probleme, Berlin, 1980
Das Mädchen pubertierte heftig und noch mehr als sonst war ihr alles egal. Das Gebrüll ihres Vaters, wenn sie Arbeiten oder Leistungskontrollen vorlegen musste, die herablassende Art der anderen Schüler mit ihr umzugehen, die genervten Lehrer, die bei ihr keinerlei Fortschritte erzielen konnten. Sie müsste nur noch zwei Jahre durchhalten, dann würde sie nach acht Jahren von der Schule abgehen und das erschien ihr eigentlich als nicht als sonderlich schlimm. Obwohl sie keinerlei Vorstellungen hatte was sie später einmal tun würde war sie davon überzeugt, dass es eine Arbeit sein musste, bei der sie nicht viel nachdenken musste. Sie konnte sich ganz gut vorstellen, als Näherin oder Köchin zu arbeiten, Hauswirtschaft war das einzige Fach bei dem sie Geschick bewies. Auch deswegen ging sie ihrer Mutter im Haushalt gern zur Hand und Gerda Becker war klug genug, sie auf dieser Strecke zu fördern. Als Hanna das erste Mal ein Mittagessen für die Familie zubereitete, ihre Mutter hatte Spinat und Rührei geplant, gab selbst ihr Vater keinen hämischen Kommentar ab sondern aß ohne eine Bemerkung auf. Seitdem bürgerte es sich ein, dass Hanna einmal im Monat für die Mahlzeit zuständig war und wenn sie in der Küche stand und das Essen nach dem Kochbuch zubereitete fühlte sie sich wohl. In dieser Zeit entwickelte sie ein ganz bestimmtes Gefühl für das Verhältnis der Zutaten, denn die Angaben in den Kochbüchern zu den Mengen und Gewichten verwirrten sie eher. Dass sie über ausgeprägte sensorische Fähigkeiten verfügte war ihr selbstredend nicht bewusst, aber bald kochte sie besser als ihre Mutter und hatte auch den Mut, bisher noch nie auf dem Speiseplan der Familie stehende Gerichte auf den Tisch zu bringen.
„Hör zu Peter“ sagte Gerda zu ihrem Mann „das Mädchen wird nie einen Abschluss schaffen so wie du dir es vorstellst, ist das eigentlich so schlimm? Für mich nicht, schau‘ sie dir an, sie quält sich mit der Schule nur herum, aber wenn sie kochen kann blüht sie richtig auf. Dann wird sie eben irgendwo in einem Betrieb oder einer Gaststätte arbeiten, auch dort kann man sein Geld verdienen.“
„Sicher“ erwiderte der Mann mürrisch „jeden Tag Soßen anrühren, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, sehr anspruchsvoll diese Arbeiten.“
„Na und, du gehst auf Arbeit wohl nicht bei euch in der Kantine essen?“
„Doch, aber die kochen so, dass es nicht gerade ein Genuss ist.“
„Na bitte, Hanna kann das besser, jetzt schon, und wenn sie noch dazulernt wird sie richtig gut werden. Zwinge sie zu nichts mehr, was weder ihr etwas bringt und dich unzufrieden macht.“
Peter Becker wusste, dass seine Frau Recht hatte. Dennoch konnte er sich nur schlecht damit abfinden vor anderen Leuten zugeben zu müssen, dass seine Tochter so gar nicht nach ihm kam und nur mit einem schlechten Abschluss von der Schule abgehen würde. Aber mittlerweile hatte er verstanden, dass jegliche Art von Druckausübung auf sie keinen Erfolg haben würde. Außerdem hatte er wichtigere Dinge im Kopf.
50. Geburtstag, Berlin, 1980
Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hatte sich allerlei Prominenz eingefunden, Peter Becker war im Ministerium in der Reihe der Abteilungsleiter angekommen und seine Wichtigkeit zeigte auch die Gästeliste. Er hatte beschlossen die Feier in ihrem Grundstück auszurichten, und bald drängten sich dort gut dreißig Leute aus allen möglichen Bereichen des Ministeriums, die Männer und Frauen kannten sich seit Jahren aus der gemeinsamen Arbeit. Ihr Umgang miteinander war eine Mischung aus Vertrauen aber auch Vorsicht, zwar war es möglich sich kritisch zu bestimmten Dingen zu äußern, aber es blieb immer ein Risiko sich nicht im Sinne der Staatsführung zu artikulieren. Dabei waren gerade sie es, die den besten Überblick über die wirtschaftliche Situation im Land hatten. Es gab Vorzeigbares, aber auf der anderen Seite auch erhebliche Probleme, die die Unzufriedenheit der Leute noch weiter anstachelten. Die Betriebe wurden auf Verschleiß gefahren und die Jagd nach Konsumgütern oder Baumaterialien beschäftigte die Menschen tagein tagaus. Dass das Land immer grauer wurde und die Umwelt schonungslos der Planerfüllung geopfert wurde schien in Berlin nicht bekannt, oder man wollte es schlichtweg nicht wissen. Mehr und mehr entstand in der hektischen Hauptstadt eine Scheinwelt, die für den Rest des Landes nicht typisch war.
„Liebe Freunde“ begann Peter Becker seine Rede „ich freue mich, dass ihr, Sie, meiner Einladung gefolgt seid, ich danke euch, Ihnen, dafür. Fünfzig Jahre alt zu werden ist im Leben eines Mannes Grund zurück zu schauen, aber auch den Blick nach vorn zu richten. Heute bin ich Abteilungsleiter, das hätte ich mir als Bauernjunge niemals träumen lassen, aber es war auch unser Staat, der mir ein Studium ermöglicht hat, dafür bin ich dankbar. Wir haben viel geschafft, es geht uns gut, aber es gibt noch viel zu tun, das wissen wir alle. Der Wind in der Weltwirtschaft wird rauer, wir verlieren Marktanteile, aber lassen wir das, heute soll gefeiert werden, bitte bedient euch.“
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