“ Vierland hat schon viel Geld investiert, den Boygroups und Girlie-Conventions Eintagsfliegen wirklich gute Musik mit tiefschürfenden Texten entgegenzusetzen und einen neuen Star zu erschaffen. Timber heißt er, kann wunderschön singen, seine Stimme ist tief und wendig, und er sorgt für Aufsehen in den Medien. Ein androgyner Typ, der Männer wie Frauen fasziniert. Aber Timber, der eigentlich Elvin heißt, trauert um Jerry. Die beiden hatten sich sehr gemocht. Die Krise ist wie ein Unwetter einfach über alle hereingebrochen.”
Alma geht durch ihr Büro, zu einem Poster, das am riesigen Wandschrank klebt. Es zeigt einen dünnen, blonden Gitarrenspieler, der versonnen allein auf einem Hocker auf einer dunklen Bühne sitzt, nur von einem blauen Spotlight beleuchtet. “Was Timber selbst an Texten bringt, ist nicht zu gebrauchen. Zumindest nicht für den Contest. Timber kann lächeln wie niemand sonst. Ob Mann, ob Frau ... niemand kann den Blick von ihm wenden, wenn er lächelt. Er singt ein paar Takte, und die Welt ist wieder in Ordnung ... wenn wir nur endlich den richtigen Text finden würden! Ein Balladen-Contest! Was für eine Idee! Aber das Interesse ist enorm.”
Alma spricht zu Timbers Bild. “Seele sollst du bieten, nicht bloß Sex und Sound. Kapito?”
Sie schüttelt den Kopf und greift nach ihrer Jacke und ihrer Tasche.
“Wenn der gnädigste Boss uns verraten würde, was er sich genau vorstellt, wäre uns schon geholfen, gell.”
Wieder in der Bücherei, schlendert Alma im Gewühl der anderen Kunden zwischen den Regalen umher, Bücher tragend, sie an sich drückend, in Büchern blätternd, Titel auf den Buchrücken lesend ... und immer wieder schaut sie sich heimlich um.
Als sie plötzlich Adrian im Gespräch mit einem Kollegen, dem teenagerhaften Ben, entdeckt, beißt sie sich auf die Lippen, um ein Seufzen zu verhindern. “Da war es wieder, das Exzentrische, so aufreizend Ferne, das mich nicht kümmern musste und mich doch eigenartig aufwühlte, ja, störte.”
Adrian kommt plötzlich auf Alma zu geschlendert, und sie starrt ihm erschrocken entgegen ... sieht seine braunen Hände, die Honiglocken, die ausgeprägten, ernsten Lippen, die breiten Schultern im bunten Hemd, den katzenhaften Gang. Adrian wendet sich einem Regal zu und langt hoch hinauf nach einem Buch; Seine Rückenmuskeln spannen sich unter seinem Hemd, seine langen Locken schmiegen sich an Wangen, Hals und schlängeln sich über die Schultern, und ein Goldkettchen gleitet die braune Haut entlang, als sein Hemd leicht rückwärts hinab rutscht und ein Stück Wirbelsäule entblößt, samtig braun ...
“ Etwas begann sich wie eine Schlinge um mein Herz zu legen und es langsam einzuschnüren.”
Ein Buch fällt Alma aus der Hand, und sie bückt sich rasch danach, sich heimlich umblickend; Niemand beachtet sie, und Adrian ist außer Sicht.
Die Putzfrau Susi (26, klein, hektisch, semmelblond im bodenlangen dunkelblauen T-Shirt-Kleid, mit zerzausten Haaren) biegt plötzlich in Almas Regalgasse ein, nähert sich rasant und rammt den Besen mit Wischlappen ungebremst gegen Alma’s Fuß; Mit einem Schreckenslaut springt Alma erschrocken zur Seite.
Susi bleibt dicht neben Alma stehen, den Mop knapp neben Alma’s Fuß, und sie schaut Alma herausfordernd an (darauf wartend, dass Alma weggehe). Verwirrt tritt Alma beiseite, und Susi folgt ihr, den Boden wischend, sodass Alma immer weiter ausweichen muss, wenn sie nicht den Besen an ihrem Fuß fühlen will; Susi arbeitet stur vor sich hin. Alma flüchtet.
Irritiert nach Susi Ausschau haltend trägt Alma ihre Bücher zum Registrierungs-Tisch ... und steht unvermittelt vor Adrian, der ihr, ohne sie anzusehen, seine Hand hin hält. Almas Blicke gleiten nervös über ihn hinweg und hängen sich an Einzelheiten, ohne wirklich viel wahrzunehmen.
“ Etwas begann in mir zu brodeln, etwas wie Ungehorsam, wie beim Stehlen von Eierlikör, als kleines Mädchen.”
Adrian’s lange, braune Finger fliegen über die Bücher, die Alma ausgewählt hat, und ihr Blick gleitet zu seinem Gesicht, saugt sich an seinem Mund fest, der Nase, den Augenbrauen, dem lockigen Haaransatz - bis sie merkt, dass er wartet, immer noch, ohne sie anzuschauen, seine Blicke fest auf die Bücher geheftet.
Alma hält ihm eilig ihre Büchereikarte hin, mit spitzen Fingern, als sei die Karte heiß. Adrian nickt und schaut auf die Karte.
“ Und ... Scham empfand ich. Darüber, dass ich überhaupt Scham fühlte, weil er mir praktisch den Tag verderben konnte.”
Alma entdeckt feine Schweißperlen auf Adrians Stirn Nasenwurzel, zwischen den schwarzen Brauen; Eine kleine Narbe furcht seine Oberlippe; Seine Hände sind mit Adern überzogen; Er trägt einen goldenen Schmuckring; Seine Bewegungen scheinen “verzögert” zu sein, als befände er sich in einer anderen Dimension, und durch seine Berührung würden die Bücher auch in sie eingesaugt; Adrian schaut auf und geradewegs in Alma’s Gesicht, aber auch durch sie hindurch.
“Danke, dass Sie unsere Bücherei benutzen. Hier ist ein Informationsblatt.”
Alma starrt ihn an, und er scheint sie gar nicht zu sehen, dann nickt sie hastig, dankend und nimmt das Blatt, das seine braunen Finger ihr samt den registrierten Büchern entgegen schieben - und Adrian wendet sich der Kundin hinter ihr zu.
“ Diese brodelnde Suppe könnte überfließen ... und sich überallhin ausbreiten, alles Papier auflösen und die Welt und den Kosmos ...”
Alma ergreift ihre Bücher, hebt schnuppernd den Kopf (riecht einen Hauch von Rasierwasser), während Adrian bereits die Bücher der nächsten Kundin registriert.
“ Aber plötzlich kühlte sie ab, diese Suppe.”
Adrian dreht sich, und Alma sieht plötzlich sein Namensschild auf seiner Hemdbrust, auf dem “Adrian T.” steht und bemerkt, dass er seltsam gebückt dasitzt, eine Schulter hochgezogen und nun viel zu schnell und zu oft blinzelt.
“ Danke, dass Sie unsere Bücherei benutzen.”
Die Kundin hinter Alma schaut sie von der Seite her ungeduldig an, dass sie endlich ausweichen solle; Alma nimmt ihre Bücher und geht eilig weiter.
Auf der Straße hastet Alma dahin, als sei sie auf der Flucht, immer wieder tief Luft holend. Sie sieht den Bus hinter sich herankommen, aber sie hastet an der Haltestelle vorüber, als funktioniere ihr Körper wie aufgezogen.
Zu Hause, in ihrem Schlafzimmer, sitzt Alma dann vor dem Bücherstapel auf ihrem Bett und starrt die verschiedenen Titel an, Musikgeschichte, Literatur, Liebesromantik, Gedicht-Anthologien. Das Telefon läutet, und Alma hebt ab, erleichtert.
“Marie! Gut, dass du anrufst. Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll.” Sie lauscht in den Hörer und lässt sich aufs Bett sinken.
“Ja, habe ich mir besorgt. Aber ich sage dir,” sie seufzt tief und starrt an die Decke, “die Atmosphäre in dieser Bücherei ist so trocken und ernst. Ja, bin ich. Genervt. Weißt du, es gibt irgendwie kein ehrliches Verhalten dort, so kommt´s mir vor. Manche Kunden behandeln die Bediensteten dort so eigenartig zuvorkommend, aber auch irgendwie fast nachsichtig, und ich finde das falsch. Auf der einen Seite soll man ja diese Leute, die anscheinend leicht behindert sich, nicht diskriminieren und ganz gleich behandeln. Das geht aber nicht, weil sie einen nicht normal behandeln. Und die Kunden in dieser Bücherei ...” Sie seufzt und ringt nach Worten, “... wirken manchmal so gekünstelt. Fast schon peinlich. Früher hat mich das nie wirklich gekümmert, aber auf einmal fühle ich mich ... fast schon unwohl, dort.”
Sie rollt sich auf die Seite und berührt die Bücher. “Alles ist so süßlich dort, dass einem schlecht werden könnte.”
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