Alma schaut fasziniert zu, wie Adrian mit einer ältlichen Bücherei-Kundin spricht, ihr nun zuhört, den Kopf schiefgelegt.
“ ... und ich habe mir gedacht, er schaut eigentlich streng aus und mehr konzentriert als nötig.”
Die Kundin geht weiter, und Adrian zieht Papier aus der Auswurflade eines Druckers, hebt Bücherstapel auf, geht damit herum, schaut Buchrücken an, blättert, stempelt, ordnet Zeitschriften und legt Bücher aller Größen auf beräderte Wägelchen.
“ Dann hatte ich seinen Gang im Verdacht, leicht schlurfend ... Aber Vierland schlurft weit ärger, und dieser fremde Mann hat sich fast schon stolz aufrecht gehalten. Vielleicht zu stolz? War er zu aufrecht, mit seinen hochgezogenen Schultern?”
Alma löst sich vom Regenfenster und zuckt die Schultern. Sie greift nach der Blümchenteetasse hinter sich auf dem Schreibtisch und nimmt einen Schluck Tee. Jetzt dampft er nicht mehr.
“ Wenn er den Kopf gehoben hat, um jemandem zuzuhören, hat er ihn nicht vielleicht ein, zwei Sekunden zu lange hoch gehalten? Ach nein. Dieses ein wenig seltsame Lauschen bedeutete einfach besondere Aufmerksamkeit.”
Die Lichter der Stadt glitzern im Nieselregen. Es klopft hart und schnell an der Tür, und Alma’s Kollegin, Marie, eine Schwarzafrikanerin, die nie in Schwarzafrika war, (33, groß, sportlich-elegant mit sehr dunkler Haut und schwarzem Wuschelkopf mit rotblonden Strähnen) steckt den Kopf ins Zimmer, zwinkert Alma zu.
“Brückenbar? Martini? Du, ich und Lian?”
“Heute nicht, Marie. Ich brauche Ruhe und ... Dunkelheit. Frühstart morgen. Sonst killt Vierland mich.”
“Na, dann hab’ Spaß in der Höhle! Bis morgen. Aber ...” Marie droht mit dem Finger, “vergiss nicht, dass du nicht für alles verantwortlich bist.”
Alma seufzt und nicht, während Marie wieder verschwindet. Sie murmelt vor sich hin. “Nach dem zweiten Martini würde ich Sachen ausplaudern, die nie ein Mensch hören darf, liebste Marie.”
Sie legt sich selber die Hand auf den Mund, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hat. “Ich muss damit aufhören.” Sie hält sich auch die andere Hand auf den Mund. Das Notizbuch liegt offen auf dem Schreibtisch, und erschrocken nimmt Alma es auf ...
“ Von Anfang an war ich hart gefordert in dem Job. Vierland hat seinem Freund, meinem Exmann, einen Gefallen tun und mich bei sich arbeiten lassen. Schön und gut, er hat damit auch mir einen Gefallen getan, und immerhin hat Carl dafür gesorgt, dass ich beruflich wieder fußfassen konnte nach unserer Scheidung. Während unserer Ehe habe ich ja nicht arbeiten dürfen, er wollte das nicht. Mit neunundzwanzig könnte ich doch noch alles anfangen, was mir so vorschwebte, hat Carl gemeint und sich damit von seinem schlechten Gewissen verabschiedet. Und von mir, um mit seiner neuen Freundin eine Weltreise anzutreten. Plötzlich war ich nicht mehr einsame Hausputzfrau, sondern Mädchen für alles mitten im Berufsleben, unter kreative Leuten in einer Branche, wie sie stressiger und schillernder kaum sein kann: im Musik-“Business”. Ich hatte täglich mit klugen, kreativen, ambitionierten Leuten zu tun, und es war wunderbar, sich durch sie auch so elitär und wissend zu fühlen. Es war wie im Film. Ich sah mich gutgekleidet und recht attraktiv täglich durch die Großstadt schreiten und hinter blanken Flügeltüren verschwinden, als inszeniert jemand mein neues Leben als Zeitgeist-Streifen ... Doch dann erhielt ich den Auftrag, zum Haufen Kreativer, Wichtiger auch noch die Genialen zu suchen. Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, wäre ich aber vielleicht doch lieber Putzen gegangen. Denn ... wo wachsen die Genialen dieser Welt? Auf Bäumen in der Wüste? Wo suchen, hab’ ich mich gefragt, verzweifelt ... Und nirgends ein Licht in Sicht.”
„Wie sieht es aus, Alma?“
Alma sitzt auf ihrem Schreibtisch und blättert in ihrem Notizbuch, als Vierland ihr von hinten seine Hand auf die Schulter, und sie schreit auf und rutscht vom Schreibtisch, presst sich die Faust an den Busen und keucht.
“Willst du mich umbringen?”
“Kommt drauf an.” Vierland deutet auf das Notizbuch. “Kreative Notizen, nehme ich an.”
“Was denn sonst?”
Alma steckt das Notizbuch schnell in ihre Handtasche und grinst ihren Chef an. Vierland (Ende Vierzig, groß, schlank, rothaarig und wie aus dem Ei gepellt) sticht seinen Zeigefinger gegen Alma.
“Wie sieht es also aus?”
„Suche noch.“ Alma murmelte, als könnte sie mit der Lautstärke den Inhalt der Worte abschwächen. “Es ist schließlich nicht gerade leicht. Du weißt nicht, was du willst, also wie sollen wir ...?”
“Wir haben ...” Vierland hebt den Arm und hält sich die schwere, glänzende Uhr vor die Augen, zieht die Brauen hoch, „noch einen Monat Zeit.“
Er schiebt den Kopf ruckartig nach vorne, wie ein Hahn, der nach etwas pickt und hebt die Augenbrauen noch weiter. Alma nickt und zuckt die Schultern, ein wortloses “Es ist wie es ist” ausdrückend. Vierland starrt sie an, dreht sich um und lässt die Tür hinter sich zuknallen. Alma nickt sich selber zu, rückt die Telefonanlage und einen Kugelschreiberhalter zurecht, wischt über den Computerschirm und holt tief Luft.
“Der Hut brennt, Boss, alles klar, Boss, aber wir können ja niemanden aus dem Ärmel schütteln.”
Das Telefon läutet, und Alma hebt schnaubend ab, lauscht dann, grinst.
“Bei dir auch? Tja ...” (Lauscht.) “Genau, Marie. Und woher solle ich den begnadeten Songschreiber nehmen? Vielleicht bin ich fehlbesetzt in dem Job! Ach ja, übrigens, ich bin neu in der Musikbranche. Aber ich soll Wunder wirken?!” Sie schnaubt ärgerlich und setzt sich wieder auf den Schreibtisch.
“Klar müssen wir jemanden vorstellen. Ich weiß, dass die anderen schon auf Tournee sind! Die haben aber auch kein Star-Drama am Hals!”
Vierland tritt wieder in Alma’s Büro, und sie schaut ihn etwas erbost an, das Telefon umklammernd.
“Sag’ Marie, dass der Verlag die Klappentexte haben will!“
Alma furcht die Stirn. “Marie weiß das. Und die Entwürfe sind längst fertig. Wenn die Titel dann stehen ... Übrigens ... Jerry hat angerufen und –“
Vierland winkt wild ab. „Kein Wort mehr von diesem Arschloch! Er hat uns in den Sumpf gestoßen. Besser, er verhält sich ganz still, sonst lasse ich ihn suchen und – ...“
“ Vierland wusste, dass Jerry um seine Ehe zu retten die Produktion verlassen hatte müssen. Keinem im Betrieb war das Drama entgangen. Fünfzehn Jahre Musikbusiness hatten den Mann ausgelaugt. Drei Kinder und eine verzweifelte, wunderbare, stets stockbesoffene Ehefrau waren Jerry endlich mehr wert gewesen als das neue Projekt. Vielleicht hätte es ihm ermöglicht, durch außergewöhnliche Songtexte endlich international berühmt zu werden. Vielleicht auch nicht. Aber der geniale Jerry hatte plötzlich nichts mehr zustandegebracht. Jedenfalls nichts, das Vierland gefallen hätte.
Und ehe der Druck noch größer, seine kreative Leistung noch geringer werden konnten, hatte er das Handtuch geworfen.”
Vierland stapft aus Alma’s Büro, und Alma zischt ins Telefon.
“Ich gehe jetzt, Marie, sonst ...”
Vierland tritt wieder ins Büro und fuchtelt von der Tür aus zu Alma hinüber.
„Das mit den Girls am Strand können wir lassen .... oder leicht umschreiben?“ Er sucht in ihrem Gesicht, die Hände erhoben und die Handflächen nach oben gedreht als sollte sie etwas hineinlegen. Sie zieht die Schultern hoch.
„Und wer soll schreiben?“
„Ach, zum Teufel!“ Vierland schlägt erneut die Tür hinter sich zu, und Alma hört seine Schritte durch den Gang poltern.
Alma schnaubt ins Telefon. “Könnte ich mir schöne Texte ausdenken, ich würd’s tun, alter Sklaventreiber! Marie, ich gehe jetzt. Viel Spaß in der Brückenbar.”
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