»Sie machen doch nicht etwa eine Diät?«, erkundigte sich Mr. Finch.
»Nein, ich mache keine Diät.«
»Das haben Sie auch nicht nötig.«
Sie aber schon, dachte Jessica. Sein Herz war bestimmt verfettet und träge. Es bestand Hoffnung, dass das geplagte Herz stehen blieb.
»So, nun erzählen Sie mal junge Frau. Was hat Sie dazu veranlasst, so ganz alleine in die Berge zu verreisen?«
Jessica beobachtete, wie er den rechten Mundwinkel, an dem ein kleines Stück Eidotter klebte, zu einem flirtenden Lächeln hochzog. Sie rückte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Mit gezwungenem Lächeln antwortete sie schliesslich: »Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.«
Mr. Finch gewann Interesse. Er knetete seine Hände, so dass die Gelenke knackten. »Und worüber schreiben Sie?«
Jessica zögerte mit ihrer Antwort. »Ich schreibe über ...«, natürlich wollte sie dem alten Mann nichts über die geplante Autobiographie verraten, »ich schreibe über Alaska. Und über Eisbären.«
»Aha«, sagte er. »Sie reisen wohl gerne?«
»Ja.«
»Ich reise auch gerne, bin schon viel unterwegs gewesen, hab schon fast die ganze Welt gesehen.« Mr. Finch war nicht mehr zu bremsen. Frankreich, Italien, ja ganz Europa hatte er gesehen. In China erwischte ihn die Vogelgrippe und er musste in Quarantäne. In Russland wurde er verhaftet – grundlos. In Rio de Janeiro habe er ein Brazilian Waxing über sich ergehen lassen und in den Everglades sei er beim Nacktbaden von einem Krokodil angegriffen worden. Dazwischen erzählte er noch, dass seine Frau an Unterleibskrebs gestorben sei.
Jessica hatte plötzlich das Bedürfnis, sich die Ohren abzuschneiden, um sich diesen Schwachsinn, den Mr. Finch von sich gab, nicht mehr anhören zu müssen.
Jetzt war er bei den Krankheiten angelangt – Schwerpunkt Darm. Er fing mit seinem Reizdarm an, es ging weiter mit Blähungen, unzähligen Anekdoten über Montezumas Rache und beim Thema Hämorrhoiden war er gar nicht mehr zu stoppen. Er erklärte, dass starkes Pressen bei Verstopfungen dazu geführt hätte. »Der Juckreiz ist manchmal unerträglich«, fuhr er fort. »Aber ich schwöre auf Analtampons mit Kamille und Kastanienextrakt.«
Jessica lächelte gequält.
Der Gestank von faulen Eiern hing immer noch in der Luft.
Angewidert betrachtete sie ihr angebissenes Eierbrot, das vor ihr auf dem Teller lag. Sie konnte nicht verstehen, dass sie noch kurz zuvor solchen Hunger gehabt hatte. Jetzt krampfte sich ihr Magen allein bei dem Gedanken an Essen zusammen.
Als Jessica glaubte, dass er mit dem Darm endlich durch war, folgte der Darmprolaps. All dies begann sie zu ermüden. Ihr war danach, sich hinzulegen, doch sie getraute sich nicht, den Vermieter hinauszuwerfen. Aber gegen das ständige Gähnen war sie machtlos. Manchmal renkte sie sich fast den Kiefer aus und unterdrückte auch die ächzenden Geräusche nicht, die sie dabei erzeugte.
Endlich wechselte Mr. Finch das Thema. »Ja, als Diabetiker hat man es nicht einfach, man muss ständig schauen, was man isst. Und die Füsse machen mir auch zu schaffen.«
Jessica griff nach einer Papierserviette, begann sie zu drehen, zu falten und baute ein Schiffchen.
»Das Alter bringt eben allerlei Leiden mit sich«, schloss er, nachdem er mehr oder weniger den ganzen Pschyrembel aufgezählt hatte.
Jessica nickte und sah Mr. Finch mit einem langen Blick an. Sie schätzte ihn auf Ende neunzig, vielleicht älter. Aber das war wohl kaum möglich.
»So, jetzt habe ich genug gejammert«, sagte er. »Haben Sie eigentlich gut geschlafen letzte Nacht?«
»Ja, eigentlich schon«, antwortete Jessica gelangweilt.
»Hatten Sie genug warm?«
»Sicher.«
»Das glaube ich Ihnen gerne. Schliesslich haben Sie die allerbeste Decke. Ich sage immer: lieber Gänsedaunen statt Gänsehaut.«
»Gänsedaunen?«, fragte Jessica. Sie benutzte aus Tierliebe nur synthetische Bettwäsche. »Aber hoffentlich wurden die Gänse nicht lebend gerupft!«
»Doch, ich besass früher Gänse. Ich habe sie gerupft und gestopft.« Mr. Finch lachte hell auf. Dieses Lachen kam überraschend und war überhaupt nicht angebracht.
Jessica starrte Mr. Finch wütend an, verkniff sich aber eine Diskussion über das Thema. Sie konnte seine Gegenwart keine Sekunde mehr ertragen. Hätte sie ihm doch bloss die Tür nicht aufgemacht! Schliesslich warf sie einen Blick auf die Armbanduhr und tat sehr überrascht. Sie erklärte ihm, dass sie einen dringenden Termin in der Stadt hätte und ihr deswegen leider keine Zeit mehr für eine weitere Tasse Kaffee bliebe.
Mr. Finchs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Da kann man nichts machen«, sagte er und erhob sich. »Dann gehe ich noch schnell ins Atelier. Ich wollte sowieso ein Bild fertig malen.«
»Ja, tun Sie das«, sagte Jessica und strebte bereits in Richtung Haustür. Ihre Hüfte tat immer noch weh, aber sie liess sich nichts anmerken. Bestimmt hatte Mr. Finch ein künstliches Hüftgelenk, und sie wollte ihn nicht dazu ermutigen, über weitere Gebrechen zu berichten.
»Haben Sie noch kurz Zeit, sich das Atelier anzusehen?«, fragte Mr. Finch.
»Nein, wirklich nicht«, antwortete Jessica schnell, wie aus der Pistole geschossen.
»Das Atelier ist gleich um die Ecke«, beharrte Mr. Finch. »In fünf Minuten lasse ich Sie gehen.«
»Wie, um die Ecke?«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
»Nein.«
»Also gut, dann ein anderes Mal.« Mr. Finch zögerte einen Augenblick, dann ging er.
Nachdem Jessica ganz langsam die Tür geschlossen hatte, um nicht den Eindruck zu erwecken, als würde sie diese hinter ihm zuschlagen, eilte sie zum Fenster und spähte durch die Gardinen. Sie sah, wie Mr. Finch in dem Haus, das in der Broschüre nicht abgebildet war, verschwand. Sein Mercedes stand immer noch vor dem Haus.
»Nein! Nein! Nein!«, schrie Jessica. »Das darf nicht wahr sein!« Das Haus nebenan gehörte Mr. Finch und offensichtlich wohnte er auch dort.
Draussen begann es langsam zu dämmern und am Horizont hing bereits eine schmale Mondsichel. Jessica war den ganzen Nachmittag im Haus geblieben, hatte weder geduscht, noch sonst irgendetwas zustande gebracht.
Die meiste Zeit war sie damit beschäftigt, durch die Gardinen zu spähen und das Haus von Mr. Finch zu beobachten, in der Hoffnung, dass er verschwinden würde.
Ein Atelier?, ging es Jessica plötzlich durch den Kopf. Er malt Bilder? Vielleicht ist Mr. Finch ein wahrer Künstler, gar ein Genie!
Sie verstand plötzlich nicht mehr, weshalb sie sich überhaupt so aufregte. Mr. Finch war doch nur ein einsamer alter Mann. Was musste er von ihr denken? Schliesslich hatte er es doch nur gut gemeint. Es war doch wirklich nett von ihm, mit den Eierbroten bei ihr vorbeizuschauen. Ausserdem hatte er ihr gestern Abend das gesamte Gepäck ins Haus geschleppt. Und das trotz Diabetes und Darmverschluss.
Zur Abwechslung blickte Jessica wieder einmal zum Fenster hinaus, zuckte aber gleich zurück, als Mr. Finch ihr heftig zuwinkte.
Sie wandte sich vom Fenster ab und zog den Vorhang zu. Einen Moment später beobachtete sie, wie der Mercedes die Auffahrt hinunterbrauste.
Jessica atmete auf. Er wohnt gar nicht da! Bestimmt hat er hier oben nur sein Atelier! Vielleicht würde sie seine Einladung doch annehmen, um seine Bilder zu begutachten.
Endlich hatte sie die Kraft, sich in die obere Etage zu begeben und im Arbeitszimmer den Computer einzuschalten.
Jessica setzte sich an den Schreibtisch. Die alte Ahornholzplatte war vergilbt und mit dunklen Ringen von Kaffeetassen und sonstigen Getränken übersät. Sie lehnte sich in dem quietschenden Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken.
Womit sollte sie anfangen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.
Nachdem der Bildschirmschoner schon zum dritten Mal das weisse Fenster mit einem Familienfoto überdeckte, fing sie endlich an zu schreiben:
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