»Der Dunstabzug muss repariert werden«, erklärte Mr. Finch und fing an daran zu rütteln. »Ich könnte ihn mir ansehen, wenn Sie wollen.«
»Nein, danke, das ist nicht nötig«, erwiderte Jessica schnell. »Ich kann ja das Fenster aufmachen, während ich koche.«
»Nun ja, das Fenster klemmt ein wenig«, meinte der Vermieter. »Hat sich wahrscheinlich verzogen. Aber das wird sich wieder legen, sobald die Heizungen angelaufen sind.«
Die Enttäuschung dämpfte Jessicas Stimmung. Als sie dann noch einen unappetitlichen Fleck auf dem Küchentisch entdeckte, wurde ihr Gesicht immer finsterer. »Wann ist hier das letzte Mal geputzt worden?«, erkundigte sie sich, während sie demonstrativ auf die dreckige Stelle auf dem braunen Holztisch starrte.
Mr. Finch warf einen Blick darauf und sagte: »Aber das ist doch gar kein Problem! Das kann man doch ganz einfach mit etwas Spucke wegmachen!«
Das ist doch wohl ein Witz?, dachte Jessica.
War es nicht. Der alte Mann war bereits dabei, den Fleck mit seinem Speichel zu entfernen.
Jessica schüttelte sich voller Ekel und Entsetzen.
Mr. Finch grinste breit und verliess die Küche. Jessica trottete mit ausdrucksloser Miene hinterher. Als sie erwähnte, dass es in diesem Haus ganz anders aussehen würde, als in der Broschüre angegeben, stiess sie auf taube Ohren.
Ich bleibe hier eine Zeit lang und versuche mein Leben wieder in Ordnung zu bringen, sagte sie sich. Wahrscheinlich muss ich mir einfach mal bewusst werden, was für ein schönes Leben ich in Wirklichkeit führe.
Das Wohnzimmer war ordentlich, aber geschmacklos eingerichtet. Es gab nicht einen einzigen modernen Gegenstand. Jessica fühlte sich ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Die massiven Möbel waren offensichtlich alle handverarbeitet. Antiquitätensammler hätten ihre Freude daran gehabt. Dunkle Perserteppiche belagerten den Boden. Braune Samtvorhänge und vergilbte Gardinen zierten die Fenster.
Die Einrichtung beschwor unweigerlich Bilder aus ihrem Elternhaus herauf und Jessica bereute es augenblicklich, dieses Haus gemietet zu haben. Am liebsten wäre sie in ihr Auto gestiegen und nach Hause gefahren. Das schreckliche Haus, dieser widerliche alte Mann – sie hatte sich alles ganz anders vorgestellt.
Mr. Finch ging hinüber zum Fenster. »Es ist schon zu dunkel, um etwas zu sehen, aber morgen früh haben Sie einen herrlichen Ausblick. Die Lage dieses Hauses ist ideal, um einmal richtig auszuspannen.«
Jessica blickte starr aus dem grossen Fenster, dabei reflektierte das Gesicht des alten Mannes in der Scheibe. Es ist schon sehr einsam hier oben, dachte Jessica. Aber genau das hatte ich ja gewollt.
»Haben Sie noch mehr Gepäck?« Mr. Finch wartete Jessicas Antwort gar nicht erst ab, sondern liess sie einfach stehen und ging zum Range Rover, um die restlichen Koffer zu holen.
Jessica nutzte die Zeit, während der Vermieter mit Gepäckschleppen beschäftigt war, um sich in den übrigen Räumen im Erdgeschoss umzusehen. Ausser einem Esszimmer fand sie nur noch eine Abstellkammer, die mit allerlei Gerümpel vollgestopft war. Im ganzen Haus roch es muffig. Schmutz lag auf dem Boden und Spinnweben hingen in den Ecken. Auch hier musste seit Wochen nicht mehr sauber gemacht worden sein. Sie beschloss, am nächsten Tag das Haus erst einmal gründlich zu putzen.
Gepolter kündigte die Rückkehr des Vermieters an. Atemlos und schweissgebadet kam er mit der letzten Reisetasche ins Haus gestapft. Mr. Finch wischte sich den Schweiss von der Stirn, dann stand er nur da und starrte Jessica auf beunruhigende Weise an. Plötzlich sagte er: »Hoffentlich funktioniert der alte Heizkessel. Letztes Jahr hatte er den Geist aufgegeben und alle Rohre waren zugefroren.« Den Blick immer noch auf Jessica haftend, fuhr er fort: »Keine Angst, falls die Heizungen wieder streiken sollten, komme ich sofort vorbei und gebe Ihnen warm.« Er lachte hell und fügte hinzu: »Verfroren ist hier noch keiner!«
Jessica wusste nicht recht, ob sie diese unmögliche Bemerkung abstossend oder belustigend finden sollte. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Mr. Finch wieder das Wort. »Ich habe Ihnen im grossen Schlafzimmer das Bett bezogen. Ich dachte, dort haben Sie am meisten Platz.« Er machte eine kurze Pause. »Das Telefon ist da drinnen«, fügte er hinzu und deutete auf das Wohnzimmer.
»Super«, brachte Jessica schliesslich hervor und rang sich ein Lächeln ab.
»Soll ich Ihnen noch beim Auspacken helfen?«, fragte Mr. Finch.
Jessica schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr das Pagenhaar um die Ohren flog. Jetzt ging seine Hilfsbereitschaft definitiv zu weit. »Nein, vielen Dank«, lehnte sie sein Angebot höflich, aber bestimmt ab.
»Gut«, sagte Mr. Finch. »Wenn etwas ist, rufen Sie mich an. Sie haben ja meine Nummer.«
Nachdem der Vermieter endlich gegangen war, atmete Jessica laut und hörbar auf, und vergewisserte sich, dass die Tür abgesperrt war. Dann machte sie sich daran, das Gepäck in das obere Stockwerk zu schleppen. Von dem kleinen Eingangsbereich aus führte eine knarrende Holztreppe in den oberen Stock hinauf. Dort mündete sie in einen breiten Korridor, der das Haus der Länge nach in zwei Hälften teilte. Hier lagen die beiden Schlafzimmer und dazwischen befand sich ein einziges Badezimmer.
Jessica warf einen kurzen Blick hinein. Ihre Begeisterung hielt sich auch hier in Grenzen. Dann betrat sie das eine Schlafzimmer, dessen Tür offen stand. Hier befand sich ein Einzelbett mit einer hellgrünen Steppdecke darauf und ein grosser Schreibtisch, wo sie gleich ihren Laptop und einen kleinen Laserdrucker platzierte.
Dann öffnete sie die Tür des anderen Schlafzimmers. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick wie versteinert stehen. Die Wände waren mit grossblumigen Tapeten bedeckt, im hinteren Teil des Zimmers stand ein breites altes Doppelbett, ein Schrank und eine wurmstichige Kommode mit drei Schubladen. Am Fenster hingen burgunderfarbene Vorhänge und weisse Gardinen mit Spitzen.
Hier drinnen wurde sie zwangsläufig an das elterliche Schlafzimmer erinnert. Dort war alles burgunderfarben: die Tapeten, der Teppich, die Bettwäsche, die Zierkissen, dann gab es noch einen Schrank, der war zwar schwarz, hinter zwei Glasfenstern hingen aber zwei kleine Vorhänge in der Farbe Burgunder. Ihre Eltern nannten den Schrank »Napoleon«. Jessica hatte nie herausgefunden weshalb er so hiess. Nur so viel, dass der alte Holzschrank nichts mit Napoleon Bonaparte zu tun hatte. Genauso wenig wie die Betitelung für das Elternschlafzimmer zutraf: »Moulin Rouge«. Was sich in diesem Raum meistens abgespielt hatte, erinnerte eher an die Krankenhausserie Emergency Room. Die vielen Krankheiten der Mutter – die echten und die eingebildeten – bestimmten damals den Alltag von der ganzen Familie. Eines Tages hatte die Mutter sogar beschlossen nicht mehr zu laufen und musste dann mit dem Rollstuhl herumgeschoben werden.
Während sie immer noch die Vorhänge anstarrte, stieg auf einmal eine Erinnerung aus ihren Kindheitstagen auf. Sie war damals sechs Jahre alt und besuchte die erste Klasse:
Als die Schule aus war, ging Jessica schnurstracks nach Hause. Sie hatte einen Schlüssel zur Wohnungstür an einem Band um den Hals hängen, damit sie hereinkonnte, wenn die Mutter im Bett lag und der Vater nicht zu Hause war. Sie schloss auf und trat leise über die Schwelle. Sie streifte die Schuhe von den Füssen und ging auf Zehenspitzen über den Flur. Sie hoffte, dass ihre Mutter schlief oder sie nicht bemerkte, damit sie sich eine Weile ungestört ihren Hausaufgaben widmen konnte.
Die Schlafzimmertür stand weit offen. Als sie um die Ecke spähte, sah sie, wie ihre Mutter aufrecht im Bett sass. Das Gesicht geisterhaft weiss, die blonden toupierten Haare in alle Richtungen abstehend. Die verhärteten Züge der Mutter wurden vom Schein eines Sonnenstrahls, der durch die Fensterscheibe drang, betont. Sie trug ein hellblaues Nachthemd.
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