Jessica wusste nicht was sie tun sollte. Leise kehrt machen oder ihre Mutter ansprechen? Diese Entscheidung wurde ihr sofort abgenommen.
»Mir ist es schlecht!«, schrie die Mutter aus heiterem Himmel.
Jessica zuckte zusammen und betrat langsam das Schlafzimmer. »Kann ich dir etwas bringen? Vielleicht einen Tee?«, fragte sie schüchtern.
»Nein!«, kreischte die Mutter. »Ein Becken! Schnell!«
»Was für ein Becken?«
»Eines aus dem Badezimmer! Na los!« Dann fing die Mutter an zu würgen.
Jessica machte auf dem Absatz kehrt und spurtete in die Küche, denn sie wusste nicht, welches Becken ihre Mutter gemeint hatte. Dort schnappte sie sich eine leere Schüssel, stolperte zurück ins Schlafzimmer und schaffte es gerade noch, Mutters Mageninhalt, der in hohem Schwall aus ihrem Mund geschossen kam, in der Schüssel aufzufangen. Als sie das Gefühl hatte, dass ihre Mutter jetzt fertig war, zog sie die Schüssel weg. Ihr war selbst schon ganz übel. Aber dann ging es wieder los. Schnell hielt Jessica die schwere Schüssel wieder unter Mutters Kinn. Trotz ihrer Geistesgegenwärtigkeit landete ein Teil davon auf der Bettdecke und auf dem hellblauen Nachthemd. Jessicas Hände fingen an zu zittern. Sie konnte die Schüssel kaum mehr halten.
Schliesslich gab der Magen der Mutter nichts mehr her. Jessica wollte das Zimmer gerade verlassen, da krächzte die Mutter: »Jetzt musst du die Bettwäsche wechseln und mir ein frisches Nachthemd anziehen.«
»Das kann ich nicht«, sagte Jessica.
»Warum nicht?«, fragte die Mutter mit kläglicher Stimme.
»Weil es mir jetzt selber schlecht ist.«
»Das glaube ich dir nicht! Du willst dich nur drücken!«
Jessica hielt immer noch die Schüssel mit dem Erbrochenen in ihren Händen, den Kopf hatte sie dabei zur Seite gedreht, damit sie nicht hineinschauen musste. »Das stimmt nicht. Mir ist es wirklich ganz übel.«
»Du holst jetzt sofort frische Bettwäsche!«, befahl die Mutter. »Marsch!«
Jessica verspürte Brechreiz, während sie diese Erinnerung wegschüttelte. Solche Zwischenfälle gehörten damals zur Tagesordnung. Wenn ihre Mutter infolge ihres Alkohol- und Medikamentenabusus nicht am Erbrechen war, dann hatte sie einen Herzanfall oder einen Blasenkrampf.
Sie legte sich versuchsweise auf die Matratze, um die Härte zu testen. Die Matratze war hart wie ein Brett und total unbequem. Den Blick nach oben gerichtet, sah Jessica, wie sich eine schwarze Spinne langsam an ihrem Faden von der Decke hinabliess.
Mit einem gellenden Aufschrei sprang sie vom Bett auf und musste dann hilflos mitansehen, wie das schwarze Ungeheuer mitten auf dem weissen Kissen landete. Jessicas Herz raste. Sie hatte panische Angst vor Spinnen. Allein schon beim Gedanken an die acht Beine bekam sie eine Gänsehaut.
Es galt, rasch zu handeln. Kurz entschlossen verliess sie das Schlafzimmer, polterte die Treppe herunter, raste in die Küche, suchte in den Schränken über der Spüle nach einem Glas, wurde fündig, rannte mit dem Glas zurück ins Schlafzimmer und hoffte, dass sich die Spinne in der Zwischenzeit nicht irgendwo versteckt hatte.
Dem Himmel sei Dank! Die Spinne hatte sich nicht vom Fleck gerührt.
Jessica holte tief Luft. Schritt für Schritt wagte sie sich vor, unterdrückte ihren Ekel und beugte sich mit dem Glas über die Spinne. Doch dann verliess sie der Mut schon wieder. »Ich schaff das nicht!«, kreischte sie und stürzte wieder aus dem Schlafzimmer.
Im Korridor versuchte sie sich durch schlichte Logik zu überzeugen, dass die Spinne ihr nichts anhaben konnte. Es war ja nur eine Spinne – ohne böse Absichten!
Obwohl, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, ihr war aufgefallen, dass die Spinne rote, wie kleine Orangenscheiben geformte Flecken auf dem Hinterleib hat. Es könnte sich hierbei durchaus um eine Schwarze Witwe handeln.
Nein! Unmöglich! Ich glaube, ich spinne doch!
Als sie neuen Mut gefasst hatte und ins Schlafzimmer zurückkehrte, war die Spinne verschwunden.
Was mache ich jetzt? Wieder abreisen? Wegen einer Spinne?
Reiss dich zusammen!
Sie ging wieder nach unten und schleppte das restliche Gepäck nach oben. Im Schlafzimmer wuchtete sie ihren Hartschalenkoffer auf das Bett und fing an ihre Sachen auszupacken. Sie räumte ihre Pullover, Jacken und Hosen in den zweitürigen Holzschrank.
Während sie ihre sauber gefalteten Pyjamas, die Unterwäsche und die Socken in die wurmstichige Kommode verstaute, fragte sich Jessica erneut, ob es wohl doch keine gute Idee war, in ein dermassen abgelegenes Haus zu fahren. Es war nicht nur die Spinne, vor der sie sich fürchtete.
Vielleicht hatte sie das mit der Klausur, in die Berge zu fahren, etwas zu wörtlich genommen. Auch mit der Distanz hatte sie es eindeutig übertrieben.
Nachdem sie fast alles verstaut hatte, verliess sie das Schlafzimmer und ging langsam die Treppe hinunter. Als sie die unterste Stufe erreicht hatte, blieb sie abrupt stehen und lauschte angespannt.
Was war das für ein Geräusch?, fragte sie sich. Es hat sich angehört wie das Knarren einer Tür! Unsinn!, beruhigte sie sich selbst. Ich bin doch mutterseelenallein in diesem Haus.
Nun ja, ganz allein war sie ja doch nicht.
Die Spinne war ja noch da. Aber sie hatte beschlossen, sich mit der Spinne irgendwie zu arrangieren. Schliesslich hatte sie keine Wahl.
Jessica stellte eine Kiste mit Lebensmitteln in die Küche, die mit allem Notwendigen beladen war. Der Proviant würde vorerst zwei Wochen lang reichen. Sie machte sich Gedanken über die Fussabdrücke auf dem Linoleum. Waren das die Abdrücke des Vermieters? Sie hatte gar nicht auf seine Schuhe geachtet!
Eine Viertelstunde, nachdem sämtliche mitgebrachten Lebensmittel in den Küchenschränken und im Kühlschrank verstaut waren, hatte sie ein hell loderndes Feuer im Kamin entfacht und sass nun mit hochgelegten Beinen auf der abgenutzten Couch. Sie überlegte krampfhaft, was sie jetzt noch tun konnte. Ihr fiel nichts ein.
Sie erhob sich wieder und ging zu der Glastür, die sich im Wohnzimmer fast über die ganze Wand erstreckte, zog die schweren Vorhänge zurück und drückte ihre Nase an der Scheibe platt. Bestimmt eine wunderschöne Aussicht. Trotzdem war in diesem Haus alles total anders, als es in der Broschüre angegeben war.
Plötzlich kam ihr alles so unwirklich vor und eine entsetzliche Leere breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Vor ein paar Stunden hatte sie mit ihren Kindern noch in der gemütlichen Küche in ihrem Haus in Calgary gesessen. Jetzt war sie allein in diesem düsteren Haus und fühlte sich irgendwie verloren. Und was Jessica am meisten verwirrte, war, dass sie es ja ursprünglich kaum erwarten konnte, in dieses abgelegene Haus zu gelangen. Sie fragte sich langsam, ob sie dabei war, verrückt zu werden. Sie hatte Angst, wie ihre Mutter zu werden.
Dann schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, dass sie vergessen hatte, zu Hause anzurufen. Sie begab sich blitzartig zum Telefon und griff zum Hörer.
»Sie sind mit dem Anrufbeantworter der Greenes verbunden«, kam es aus der Hörmuschel.
Der Anrufbeantworter? Jessica betrachtete ungläubig das Telefon.
Sie wartete den Pfeifton ab und hinterliess eine Nachricht. Als sie aufgelegt hatte, war ihre Stimmung auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Normalerweise waren ihr Mann und ihre Kinder um diese Uhrzeit daheim. Sie machte sich plötzlich Sorgen, dass ihnen etwas zugestossen sein könnte.
Jessica liess sich in den Ledersessel vor dem Kamin fallen und starrte den ausgestopften Kopf eines Hirsches an, der an der Wand hing. Es sah so aus, als starrte er wütend zurück.
»Tut mir leid«, sagte Jessica, »ich finde es auch schrecklich, Tiere umzubringen und auszustopfen.«
Sie überlegte, ob Mr. Finch diesen Hirsch getötet hatte. Das wollte sie nicht hoffen. Sie liebte Tiere über alles. Niemals könnte sie einem Tier ein Leid zufügen. Aus diesem Grund war sie auch Vegetarierin. Und aus diesem Grund hatte sie auch die grässliche Spinne im Schlafzimmer am Leben gelassen.
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