Andrea Sauter - Der Vermieter

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Jessica Greene führt mit ihrem Ehemann und den zwei gemeinsamen Kindern ein idyllisches Leben in Calgary. Seit einiger Zeit jedoch fühlt sie sich zunehmend frustriert und wird von Albträumen geplagt. Um wieder zu sich selbst zu finden, fährt sie in ein abgelegenes Haus in die Berge. Doch sie kommt nicht zur Ruhe und ihre psychische Verfassung verschlechtert sich von Tag zu Tag. Sie wird von einem alten Mann belästigt und um sie herum geschehen merkwürdige Dinge. Bildet sie sich das womöglich alles nur ein? Ist sie dabei den Verstand zu verlieren? Oder wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte?

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Andrea Sauter

Der Vermieter

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Inhaltsverzeichnis Titel Andrea Sauter Der Vermieter Dieses ebook wurde - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

Tag 13

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Tag 17

Tag 18

Tag 19

Fünf Monate später

Impressum neobooks

Tag 1

Ein Strahl der späten Abendsonne brach durch die Wolken, als Jessica Greene das letzte Gepäckstück in den Kofferraum warf. Sie konnte es kaum erwarten, ihrem Alltag den Rücken zu kehren.

»Und tschüss!«, rief sie, während sie in den Rückspiegel blickte, ihre Hand zum Abschiedsgruss hob, aufs Gaspedal trat und mit ihrem Range Rover davonbrauste.

Einen Augenblick später waren ihr arbeitssüchtiger Ehemann, ihre pubertierende Tochter und ihr hyperaktiver Sohn, der neben seiner Schwester stand, nur noch drei kleine Pünktchen in der Ferne.

»Ich bin frei!«, schrie Jessica. »Vier Wochen lang!«

Vier Wochen Ruhe, Einsamkeit und Erholung pur, das versprach sich Jessica auf dem Weg in ein abgelegenes Haus in den Bergen.

Zehn Minuten später, als sich ihr schwarzer Range Rover langsam durch den abendlichen Berufsverkehr schob, vermisste sie ihre Familie bereits.

In Wirklichkeit ist mein Mann ja gar kein Workaholic, überlegte sie, vielmehr ein angesehener Arzt, dessen eigene Praxis von mehr Patienten heimgesucht wird als McDonald‘s von Fast-Food-Liebhabern.

Und schliesslich sind die Hormone daran schuld, dass meine reizende fünfzehnjährige Tochter Alice nur noch Klamotten und Make-up im Kopf hat, die Handyrechnung im letzten Monat in den vierstelligen Bereich anschwellen liess und kürzlich, während eines Justin Bieber-Konzerts, mit der Ambulanz in die Notaufnahme gebracht werden musste.

Auch mein wundervoller dreizehnjähriger Sohn mit dem kleinen Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom kann nichts dafür, dass er während der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hatte und deshalb in der Schule nichts auf die Reihe kriegt. Schliesslich konnte er es damals nicht verhindern, dass ich hochschwanger mit meinen High Heels in einem Einkaufszentrum unterwegs war, dabei eine Designerboutique nach der anderen stürmte, mich anschliessend mit meinen hohen Hacken in einer fahrenden Rolltreppenstufe verhedderte, Bauch voran die Treppe hinunterpurzelte, woraufhin die Fruchtblase platzte und der kleine Matthew, nach Komplikationen während der Frühgeburt, mit einer Saugglocke geholt werden musste.

Das eigentliche Problem, überlegte Jessica weiter, während sie sich immer noch durch den zäh fliessenden Verkehr durch Calgary quälte, bin ich selbst. Und zugegebenerweise war ich in letzter Zeit eine totale Zicke und ein heulendes Elend. Wahrscheinlich führen Michael und die Kinder in diesem Moment gerade einen Freudentanz auf, um meine Abreise zu feiern.

Das übliche Verkehrschaos gestaltete sich an diesem Montagabend noch schlimmer als sonst. Ein Sattelschlepper war bei seinem Versuch, in den Hof eines Lagerhauses einzubiegen, stecken geblieben. Als Jessica die geniale Idee hatte eine Abkürzung zu nehmen, geriet sie in einem anderen Wohngebiet in einen erneuten Stau.

Eine halbe Stunde später konnte sie dann endlich aufs Gaspedal treten. Sie rollte auf dem Trans-Canada-Highway westwärts und blieb während der Fahrt auf der Überholspur. Die Wolkenkratzer und Einkaufszentren im Hintergrund zogen rasch an den Fensterscheiben vorbei. Nach etlichen Kilometern liess sie die Grossstadt hinter sich.

Seit ihrem mittelschweren Nervenzusammenbruch und den plötzlich aufgetretenen Albträumen vor einem halben Jahr suchte Jessica regelmässig Dr. Goldsmith auf. Zuerst war ihr dies nicht leicht gefallen und sie hatte befürchtet, den Arzt mit ihren nichtigen Problemen zu sehr zu langweilen. Aber der Psychiater hatte ihr, mit einem Ausdruck ehrlicher Anteilnahme, aufmerksam zugehört. Er versuchte ihr dabei zu helfen, ihren Albträumen auf den Grund zu gehen. »Sobald wir herausfinden, was die Ursache dafür ist«, hatte er zu ihr gesagt, »werden sie aufhören.«

Nach ein paar Sitzungen fand er heraus, dass Jessica von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit traumatisiert war. Und inzwischen machte sich jetzt langsam die aus dem Bewusstsein verdrängte Realität bemerkbar und bestand darauf, wahrgenommen zu werden. »Sie haben es vergessen, damit Sie mit der Vergangenheit nicht konfrontiert werden«, hatte er ihr erklärt.

So kam es, dass der Psychiater seine Patientin hypnotisierte. Danach wollte der Arzt ihr nicht mitteilen, was sie ihm erzählt hatte. Er meinte, die Gefahr einer Re-Traumatisierung wäre zu gross. Möglicherweise könnten sie in einer anderen Sitzung wieder daran arbeiten.

Es gab so viele Erlebnisse. Ihre ganze Kindheit war eine einzige Katastrophe gewesen, und daran konnte sie sich sehr wohl erinnern. Sie wusste auch, dass alle Gefühle, die mit ihren Eltern zusammenhingen, tief in ihr arbeiteten. Immer wieder tauchten Erinnerungen auf, an die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte.

Dr. Goldsmith hatte ihr nach der Sitzung väterlich auf die Schulter geklopft und ihr versichert: »Vertrauen Sie mir. Sie werden sich nach einiger Gedächtnisarbeit wieder daran erinnern, Schritt für Schritt. Warum nehmen Sie sich nicht eine Auszeit und fahren zur Klausur in die Berge?«

Tatsächlich war Jessica schon manchmal der Verdacht gekommen, dass ihre Eltern nicht die alleinige Schuld an ihrem verkorksten Leben trugen. Vielleicht gab es da ja tatsächlich noch etwas, das sie verdrängt hatte. Was der Psychiater gesagt hatte, machte Sinn, aber es fiel ihr schwer, die Vorstellung zu akzeptieren, dass ein langer Weg zu ihrem Seelenfrieden führen sollte. Die Idee, sich eine Auszeit zu gönnen, fand Jessica hingegen grossartig. Schliesslich war ihr Nervenkostüm immer noch hauchdünn und eine Auszeit von ihrer Familie würde ihr bestimmt gut tun.

Gleich am nächsten Tag verkündete sie ihrer Familie, sie werde für vier Wochen in den Urlaub fahren. Sie konnte sich gut daran erinnern:

Die ganze Familie sass in der Küche um den Frühstückstisch. Alle hörten auf zu essen und schauten Jessica entgeistert an. Alice war es, die zuerst die Fassung wieder erlangte: »Wer wird für uns kochen?«, fragte sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck.

»Und wer hilft uns bei den Hausaufgaben?«, wollte Matthew wissen, während er sich eine Ladung Cornflakes in seinen vorlauten Mund schob.

»In der Praxis haben wir momentan wahnsinnig viel zu tun«, meldete sich schliesslich auch noch der Ehegatte. »Ich wäre schon froh, wenn du uns in dieser strengen Zeit weiterhin aushelfen könntest.«

Jessica sah die Drei perplex an. Spätestens jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie war für ihre Kinder und ihren Ehemann nichts weiter als eine Köchin, Lehrerin und Sprechstundenhilfe!

»Wir werden die Sau rauslassen!«, drohte Matthew. Dabei zwickte er seine Schwester, die neben ihm sass, in die Taille.

Alice schüttete sich vor Schreck die ganze Flasche Ahornsirup über ihren Pullover. »Jetzt sieh mal, was du getan hast!«, schrie sie aufgebracht. »Mom! Hilf mir! Was soll ich jetzt anziehen? Ich glaube, ich kann heute nicht in die Schule gehen!« Ohne Vorwarnung schubste Alice ihren Bruder so stark, dass er vom Stuhl kippte und das Tischtuch mit sich riss.

Michael erhob sich, nahm seine Mappe und nickte betreten.

Jessica blickte entsetzt zu ihm auf.

»Tut mir leid, ich muss los. Eine Horde von Patienten erwartet mich.« Er beugte sich hinunter, küsste seine Frau auf die Stirn und verliess fluchtartig das Haus.

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