Nach einer Weile fühlte sie sich müde und beschloss, früh schlafen zu gehen. Morgen würde sie alles in einem neuen Licht sehen. Schliesslich hatte sie noch viel vor. Sie wollte jetzt tatsächlich ein Buch schreiben, eine Autobiographie sozusagen. Nicht für die Öffentlichkeit, mehr um herauszufinden, was ihr während ihrer Kindheit widerfahren war, an das sie sich nur unter Hypnose erinnern konnte.
Das Badezimmer war sehr eng. Man konnte sich hier drinnen kaum umdrehen. Der Fussboden war rissig und abgetreten. Die Wände und die Decke waren grau statt weiss.
Ausserdem fiel ihr auf, dass sich rund um die olivgrünen Kacheln Schimmel gebildet hatte. Unter dem Fenster war ein wolkenförmiger feuchter Fleck, wo die Farbe Blasen geworfen hatte und sich der Verputz darunter hochwölbte.
Die kleine Badewanne sah auch nicht gerade sauber aus. Sie entdeckte sogar noch einige Schamhaare. Von wem die wohl stammen?, überlegte sie.
Als sie sich vorstellte, dass der schmuddelige Vermieter sich womöglich kurz zuvor in dieser Wanne gesuhlt hatte, verzichtete sie auf ein Bad, putzte sich nur noch schnell die Zähne und schminkte sich notdürftig ab. Dann klebte sie sich frische Nikotinpflaster auf beide Oberarme.
Eine gute Gelegenheit, hatte sie gedacht. Friedliche Stille in der Natur, Zeit um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Zeit um mit dem Rauchen aufzuhören.
Im Schlafzimmer warf sie einen Blick auf ihr Handy und entdeckte eine Nachricht von ihren Liebsten: WIR SIND FROH, DASS DU GUT ANGEKOMMEN BIST. WIR VERMISSEN DICH AUCH. GENIESSE DEINEN LANGEN URLAUB. WIR LIEBEN DICH. MICHAEL, MATTHEW UND ALICE.
Jessica war erleichtert. Noch einen letzten Blick liess sie durch das Zimmer schweifen. »Gute Nacht Spinne. Ich lasse dich in Ruhe, und du mich. Abgemacht?« Dann löschte sie das Licht.
Vom Dach kam ein ständiges Ticken und irgendwo lief Wasser durch ein Abflussrohr. Das nervte Jessica noch mehr als ihr Tinnitus. Sie blieb zunächst liegen, in der Hoffnung, dass ihre Augenlider von selbst herunterklappen würden und sie schliesslich einschlafen konnte. Aber bald musste sie einsehen, dass es keinen Sinn hatte, länger liegen zu bleiben und sie stand wieder auf.
Sie beschloss, die restlichen Sachen auszupacken, bis sie vor Müdigkeit umfallen würde. Es dauerte keine Viertelstunde, bis sie über einer halb ausgepackten Reisetasche zusammenbrach, sich daraufhin zurück ins Bett schleppte und unverzüglich einschlief.
Nach einer nicht sehr erholsamen ersten Nacht, auf der steinharten Matratze, war Jessica dennoch zeitig aufgestanden.
Den ganzen Morgen hatte sie versucht, das Haus einigermassen in Ordnung zu bringen. Sie hatte geputzt wie eine Wahnsinnige. Es hatte sie viel Mühe, Zeit und Nerven gekostet. Aus den Wasserhähnen kam entweder kochend heisses oder eiskaltes Wasser. Sie brauchte fast fünf Minuten, um sich die richtige Temperatur einzustellen.
Der Aufwand hatte sich dennoch gelohnt. Das Haus sah trotz der schäbigen Einrichtung einigermassen wohnlich und sauber aus. Jessica hatte sogar das Geweih des armen Hirsches liebevoll abgestaubt.
Sie bewunderte gerade das Ergebnis ihrer Arbeit, als eine scheppernde Klingel ertönte.
Jessica zuckte zusammen. Wer konnte das sein?, überlegte sie. Nur ihre Familie wusste, wo sie war. Von den Dreien würde keiner unangemeldet hereinschneien und in dieser Gegend kannte sie niemanden. Ausserdem war sie hier in den Ferien und wollte nicht gestört werden.
Und wie sehe ich denn aus? So kann ich doch unmöglich die Tür öffnen! Sie blickte an sich hinab, auf das graue verwaschene T-Shirt, mit einem Aufdruck von Marge Simpson, das ihr fast bis zu den Knien reichte und die ausgeleierte pinkfarbene Trainingshose mit weissen Längsstreifen an der Aussenseite, die von ihren Hüften zu rutschen drohte. Zudem war sie verschwitzt und ungeschminkt.
Es klingelte erneut. Ohne weiter über ihr Aussehen nachzudenken, stolperte sie aus dem Wohnzimmer in Richtung Haustür, um herauszufinden, wer es wagte, ihr mühsam errungenes Hochgefühl zu stören.
Als sie um die Ecke bog, rutschte ihr der kleine Teppich im Flur auf dem frisch polierten Parkett unter den Füssen weg. Jessica schrie auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, bevor sie das Gleichgewicht verlor und zur rechten Seite wegkippte. Als sie mit dem Oberschenkel auf dem Boden aufschlug, jagte ein unglaublicher Schmerz durch ihren Körper, der sich dann in die Hüfte bohrte. Einen Moment lang blieb Jessica benommen liegen, bevor sie sich fluchend und mit schmerzverzehrtem Gesicht aufraffte, um die Haustür zu öffnen.
Sie machte grosse Augen. Der Vermieter stand ihr gegenüber und betrachtete sie mit freundlichen, lebhaften Blicken.
Grossartig! Genau das, was sie brauchte! Einen Überraschungsbesuch von diesem alten Mann.
Mr. Finch trug einen eng anliegenden hellblauen Pullover, der ihn noch unförmiger erscheinen liess. Das weisse Haar stand in widerspenstigen Büscheln vom Kopf ab.
»Hätten Sie wohl Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken?«, fragte er.
Zu nichts hatte Jessica weniger Lust, doch ehe sie das aussprechen konnte, fuhr er fort: »Ich habe Eierbrote mitgebracht.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu antworten, und schloss ihn wieder. Mr. Finch war bereits über die Schwelle getreten und marschierte direkt in die Küche.
Jessica hinkte hinterher. Ihre Hüfte schmerzte höllisch. Aber sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als Mr. Finch einen Kaffee zu machen.
In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein und knallte zwei Teller auf den Tisch. Ihr wurde kalt und heiss zugleich. Sie wollte keinen Besuch, sondern sehnte sich nach einer heissen Dusche und nach völliger Ruhe.
Da hätte ich ja auch gleich zu Hause bleiben können, dachte sie. Wenn sie sich dort mit einer Zeitschrift irgendwo hinsetzte, dauerte es keine Minute, bis jemand auftauchte, der etwas von ihr wollte. Der Begriff Ruhe war für sie schon längst zum Fremdwort geworden. Für sie gab es keinen Feierabend und keine Wochenenden mehr.
Der unangemeldete Besuch von Mr. Finch kam ihr höchst ungelegen. Die Königin von England würde jetzt sagen: »I am not amused.«
»Wie ich sehe, haben Sie sich schon eingerichtet«, sagte Mr. Finch, nachdem er sich unaufgefordert gesetzt hatte.
»Ja«, erwiderte Jessica knapp und liess lieblos ein paar Servietten auf den Küchentisch flattern.
Die Kaffeemaschine verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm, so dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Jessica wartete stumm bis der Kaffee durchgelaufen war, während der alte Mann etwas zu ihr rüber schrie.
Als das nervige Gerät schliesslich abstellte, füllte Jessica die beiden Tassen mit geschäumter Milch auf und stellte sie auf den Tisch.
Mr. Finch trank einen Schluck Kaffee und gab zwei Zuckerwürfel in die Tasse, die er schnell umrührte. Dabei schnalzte er mit der Zunge und auf seinen Wangen brannten rote Flecken.
Mit zittrigen Fingern wickelte er die Eierbrote aus der Folie und legte je eines davon auf die beiden Teller. »Na dann«, sagte er. »Guten Appetit!«
Jessica nickte und setzte sich. Sie beugte sich vor und starrte auf den Teller. Das belegte Brot mit Ei sah ekelerregend aus. Trotzdem hatte sie das Gefühl, aus Höflichkeit, davon kosten zu müssen. Doch ein Biss in das Sandwich bestätigte, dass die Eier nicht mehr ganz frisch waren. Sie spuckte alles auf den Teller. Auf eine Salmonellenvergiftung konnte sie gut und gerne verzichten.
»Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Mr. Finch, während er sein Sandwich mit beiden Händen vor den Mund hielt, dann herzhaft hineinbiss und auf vollen Backen kaute.
Jessica machte ein angewidertes Gesicht. »Ich bin nicht hungrig«, log sie. Natürlich war sie das. Sie hatte sogar einen Bärenhunger. Fünf Stunden lang putzen, das macht hungrig. Putzen, damit man in diesem schäbigen Haus überhaupt einigermassen wohnen kann. Und weshalb habe ich diese Bruchbude gemietet? Damit ich meine Ruhe habe!
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