Das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. »Raus!«, schrie Jessica, während sich die Geschwister immer noch auf dem Küchenboden rauften. Mürrisch und mit übertriebener Geste bedeutete sie den Kindern, die Küche zu verlassen. Noch bevor sie die Sauerei auf dem Boden aufputzte, ging sie zum Computer und buchte ihre Reise.
Das war vor zwei Wochen gewesen. Jessica drückte aufs Gaspedal und beschleunigte noch mehr. Bald hatte sie die Ausfahrt zu der Ortschaft Banff erreicht. Der Himmel verfärbte sich zu einem dunklen Purpurrot, als die Sonne hinter den Bäumen versank. Ihr Ziel wäre es gewesen, das Haus in den Bergen vor Anbruch der Dunkelheit zu erreichen, aber die Packerei hatte endlos Zeit gekostet.
Während sie mit gedrosselter Geschwindigkeit an einem Supermarkt vorbeifuhr, überlegte sie kurz, ob sie wirklich nichts vergessen hatte einzupacken: Das Gepäck stapelte sich bis unter die Decke des Kofferraums ihres Range Rovers. Auf dem Rücksitz türmten sich, neben Kisten mit Nahrungsmitteln und Getränken, drei vollgestopfte Reisetaschen.
Eine Ampel sprang gerade auf Rot und verschaffte ihr noch ein wenig Bedenkzeit. Sie nahm einen Schluck Wasser, schraubte die Flasche wieder zu und steckte sie zurück in die Türablage. Ich habe praktisch den gesamten Inhalt meines Kleiderschrankes eingepackt, überlegte sie, ich kann nichts vergessen haben.
Ein wildes Hupen riss sie jäh aus ihren Gedanken. Die Ampel hatte offenbar schon längst wieder auf Grün geschaltet. Jessica nahm den Fuss von der Bremse, murmelte eine Entschuldigung in den Rückspiegel, erschrak wegen ihrer neuen Frisur und fuhr mit kreischenden Reifen über die Kreuzung hinweg. Ihr schwuler Frisör Thierry, den man sich eigentlich nur leisten konnte, wenn man vorher einen Kredit aufnahm, hatte ihr zwei Tage vor der Abreise einen Pagenschnitt verpasst. Nun sah sie aus wie Prinz Eisenherz, fand sie. In Wirklichkeit stand ihr der neue Haarschnitt ausgezeichnet. Er betonte auf bezaubernde Weise ihre grossen haselnussbraunen Augen, die exakt mit ihrer Haarfarbe harmonierten. Die von Natur aus schön geformten Augenbrauen verliehen ihr einen frischen und spannenden Gesichtsausdruck. Jessica war sehr hübsch, auch wenn sie das manchmal nicht wahrhaben wollte.
Glücklicherweise war ihr Ehemann kein plastischer Chirurg, ansonsten wäre ihr Gesicht längst erstarrt vor Botox, ihre Lippen auf Schlauchbootgrösse aufgespritzt und nicht vorhandenes Fett abgesaugt worden. All das hatte sie wirklich nicht nötig. Ihre vierzig Jahre sah man ihr nicht an. Sie wäre auch für Dreissig durchgegangen.
Jessica war jetzt schon länger als eine Stunde unterwegs. Die Broschüre auf dem Beifahrersitz enthielt auch eine Wegbeschreibung für die Fahrt von Banff zu dem Haus, welches sie für einen Monat gemietet hatte. Ein kurzer Blick darauf verriet ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Es war bereits dunkel und der Bow River neben dem Bow Valley Parkway war in einen dunstigen grauen Schleier gehüllt. Die Strassenlaternen brannten, aber noch heller leuchteten die Sterne über dem Gebirge, das sich hinter der Stadt aufbaute. Vor zwei Wochen lag, laut Wetterbericht, in den Bergen noch Schnee. Der war aber schon längst wieder dahingeschmolzen und alles war grün. Jessica wünschte sich sehr, dass es schon bald wieder anfing zu schneien. Sie stellte sich ihren Urlaub in einer verschneiten Winterlandschaft in den Bergen absolut märchenhaft vor.
Sie war sowieso gespannt auf das Haus und hoffte, dass es genauso umwerfend wie auf der Abbildung in der Broschüre aussehen würde: helle und freundliche Räume, ein sauberes modernes Badezimmer und ein gepflegter Garten. Genauso wie sie es sich mit ihrer Familie, in ihrem Heim in Calgary, eingerichtet hatte. Sie verabscheute dunkle Möbelstücke, bunte Tapeten und Perserteppiche. Es hatte etwas mit den Erinnerungen ihrer Kindheit zu tun.
Die Sechszimmerwohnung, in der sie aufgewachsen war, erinnerte an ein Schloss: sündhaft teure Antiquitäten, Gemälde von Rembrandt, wertvolle Teppiche und vergoldete Türklinken zierten die düsteren Räume. Ihre Mutter lebte in dem Wunschdenken, dass Blaues Blut durch ihre Adern floss.
Es gab viele Dinge, bei denen sie ihr nicht nacheifern wollte. Jessica hatte sich immer vorgenommen, alles anders als ihre Mutter zu machen, wenn sie einmal eigene Kinder bekommen würde. Als es dann soweit war, übertrieb sie es allerdings – sie war eine richtige Glucke. Sie half den Kindern die Schuhe zu binden, rannte ihnen mit den Pausenbroten hinterher, wenn die beiden sie wieder einmal vergessen hatten einzupacken, und liess sie im Winter nie ohne Mütze und Handschuhe aus dem Haus gehen. Ihrer Familie zuliebe hatte sie auch das Medizinstudium aufgegeben, während Michael immer weiter die Karriereleiter emporgestiegen war. Ihr Mann führte mittlerweile eine eigene Praxis, in der sie von Zeit zu Zeit in der Funktion als Sprechstundenhilfe aushalf, obwohl sie selber gerne Ärztin geworden wäre. In den vergangenen Jahren hatte sie zu viele eigene Wünsche und Bedürfnisse hinten angestellt. Nun war sie unterwegs in die Einöde Kanadas, um herausfinden, wie es weitergehen sollte.
Als sie aus ihren Gedanken auftauchte und sich wieder aufs Fahren konzentrierte, stellte sie fest, dass sie inzwischen die Berge erreicht hatte. Sie bog bei einem baumbestandenen Abzweiger von der Hauptstrasse ab und kurvte in eine steil ansteigende Strasse hinein, die aus hohen Tannenbäumen bestand und sich den Berg hinaufwand.
Je näher sie ihrem Ziel kam, desto mulmiger wurde ihr zumute. Zwar hatte sie kurz das Aufflackern von Vorfreude verspürt, das sich aber wenig später bereits wieder in Angst und Ungewissheit umwandelte.
Vielleicht lag es auch an der melancholischen Musik, die gerade im Radio lief. Während sie versuchte einen anderen Sender einzustellen, geriet ihr Wagen für kurze Zeit auf die Gegenfahrbahn. Aber das spielte keine Rolle. Sie war ganz alleine auf der steilen Gebirgsstrasse.
Sie schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und machte sich Gedanken, was sie jetzt alles tun konnte, nun da sie endlich viel Zeit für sich haben würde. Vielleicht ein Buch schreiben, Fastenwandern, Kanufahren, Japanisch lernen. Sie wollte sich schon lange ein Hobby zulegen.
Es wurde immer dunkler und sie sah immer weniger. Dabei musste sie an ihre beste Freundin denken, die immer halb blind durch die Gegend fuhr, weil sie keine Brille tragen wollte.
Jessica versuchte sich zu erinnern, wann sie Natalie das letzte Mal gesehen hatte. Es war schon eine ganze Weile her, Wochen, wenn nicht Monate. Seit ihre Freundin mit diesem komischen Typen, mit dem schwer aussprechbaren Namen, zusammen war, trafen sie sich nur noch selten. Aber sie telefonierten mindestens einmal pro Woche miteinander, allerdings nur dann, wenn Jaime nicht anwesend war. Der feurige Spanier, mit dem Pferdeschwanz, war in höchstem Masse eifersüchtig. Er belauschte ihre Telefongespräche und mischte sich ständig ein. Manchmal zog er dann einfach den Stecker heraus.
Plötzlich wurde Jessica durch das grelle Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos geblendet, das genau durch die Windschutzscheibe strahlte. Für einen kurzen Moment fuhr sie mit geschlossenen Augen weiter.
Sie öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass vor ihr ein Dickhornschaf in aller Seelenruhe über die Strasse spazierte. Sie schrie laut auf und die Reifen quietschten, als sie voll auf die Bremse trat. Dass ihr Wagen nur wenige Zentimeter vor dem Abgrund zum Stehen kam, grenzte an ein Wunder.
Mein Gott, dachte Jessica. Ich darf gar nicht daran denken, was diesem armen Schaf alles hätte passieren können. Ich muss unbedingt langsamer fahren. Sie schaltete die Scheinwerfer ein und beleuchtete die dichten Nadelbäume, welche die Strasse säumten. Mittlerweile fuhr sie im Schneckentempo, damit sie jederzeit anhalten konnte, falls wieder ein Tier auftauchte.
Читать дальше