Jessica stockte der Atem. Ihre Lippen zitterten. Jasmin Müller!
Das Taschentuch gehörte ihr. Es war ein Geschenk von ihrem Patenonkel gewesen.
Jessica ging ins Wohnzimmer und machte dort ebenfalls das Licht an. Die Fenster waren geschlossen, die dicken Vorhänge zugezogen. Mit offenem Mund blieb sie stehen.
Sämtliche Möbel waren verrückt worden. Die Couch, der Sessel, der Teppich, alles war nicht an seinem Platz. Sie trat einen Schritt vor, dann blieb sie wieder stehen und sah verwirrt von einem Möbelstück auf das andere.
Allmählich erkannte sie, was sie so seltsam berührte. Es war so aussergewöhnlich und entsetzlich, dass sie es kaum glauben wollte.
Sie war schon einmal in diesem Wohnzimmer gewesen. Aber nicht in diesem Haus. All die Möbel, so wie sie jetzt platziert waren, standen in dem Haus, wo sie vor vierunddreissig Jahren eingesperrt war.
Jessica packte die Angst, wie sie sie zuvor noch nie erlebte hatte. Voller Panik rannte sie die Treppe hinauf, raste ins Arbeitszimmer und holte die Pistole aus der Schreibtischschublade. Dann eilte sie ins Schlafzimmer und schloss sich darin ein. Sicherheitshalber nahm sie den Stuhl, trug ihn an die Tür und stellte ihn mit der Lehne gegen den Griff. Immer noch wackelig auf den Beinen, setzte sie sich aufs Bett und umklammerte die Waffe in der schweissnassen Hand.
Plötzlich erinnerte sie sich an den Tag, als sie im Supermarkt die Regale nach Backpulver durchforstete. Zu dem Mann im schwarzen Mantel hatte sie gesagt: »Nein, ich brauche Ihre Hilfe nicht.« Dann fand sie das Backpulver, rannte damit an die Kasse und stellte sich in die Reihe. Aber dann stand der Mann wieder hinter ihr und berührte sie.
Jessica konnte jetzt alles so deutlich vor sich sehen, als ob es erst gestern passiert wäre. Die kleine Jasmin Müller, die sie einmal war. Sie konnte die Angst der kleinen Jasmin spüren. Die Erinnerung kehrte mit erschreckender Intensität zurück. Es war so, als ob sie diesen Tag jetzt noch einmal erleben würde:
Es war an einem frühen, schulfreien Nachmittag. Nachdem der Mann Jasmin in der Warteschlange angefasst hatte, liess sie das Backpulver liegen, ohne es zu kaufen und verliess den Supermarkt auf schnellstem Weg. Weil sie Angst hatte, ohne das gewünschte Backpulver nach Hause zu kommen, ging sie anschliessend in einen kleinen Lebensmittelladen, in der Hoffnung, dort das Gewünschte besorgen zu können. Kaum dass sie den Laden betreten hatte, stand auch dieser Mann wieder hinter ihr.
»Kann ich dir behilflich sein?«, fragte der Mann im schwarzen Mantel erneut.
Ohne zu antworten und ohne Backpulver gekauft zu haben, verliess Jessica rasch den Laden.
Auf dem Gehsteig bewegte sie sich mit schnellen Schritten vorwärts und trat den Nachhauseweg an.
Ihre Puppe Veronika umklammerte sie dabei mit festem Griff.
Nach wenigen Metern hörte sie Schritte ganz dicht hinter ihr. Sie drehte sich nicht um, lief noch schneller.
»Nicht so schnell!«, rief der Mann hinter Jasmin. Er streckte seine behandschuhte Hand nach ihr aus. Jasmin drehte sich nur kurz um und der Mann packte sie fest am Arm.
»Komm doch mit«, sagte der Mann im schwarzen Mantel. »Ich habe Backpulver zu Hause. Wir können zusammen einen Kuchen backen.«
»Nein!«, schrie Jasmin. »Ich will nicht!«
»Einen Schokoladenkuchen«, sagte der Mann und lächelte. »Du magst doch Schokoladenkuchen?«
»Nein! Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet.«
»Gut«, sagte der Mann, »du kannst es auch anders haben.« Er verstärkte den Griff an Jasmins Arm und zerrte sie über den Bürgersteig bis zu den Parkplätzen. Ihre Schuhe schleiften über das Pflaster, als sie hinter dem Mann herstolperte.
Verzweifelt schaute sie sich nach Hilfe um und schrie: »Nein! Ich will nicht mitgehen!«
»Es ist völlig unwichtig, was du willst«, erwiderte der Mann wütend. »Begreifst du das nicht?« Seine feuchten Lippen berührten ihr Ohr.
Bei seinem roten Renault angekommen, riss er die Wagentür auf und zerrte das Mädchen in das Auto. Jasmin versuchte sich zu befreien, aber sein Griff war so fest, dass er ihr damit die Knochen hätte brechen können. »Hinein mit dir!«, befahl er mit rauer Stimme. »Gib keinen Laut von dir, oder es passiert etwas ganz Schlimmes!«
Jasmins Augen wurden gross und starr vor Schreck. Sie sah den Jähzorn im Gesicht des Mannes. Trotz der brutalen Drohung schrie Jasmin hoch und schrill: »Nein! Nicht!«
Sie wehrte sich mit Händen und Füssen gegen den Mann, aber ihre Kraft reichte nicht aus, um ihr Handgelenk aus der Umklammerung zu reissen.
Der Mann drängte sie in das Innere des Wagens und dann hörte sie, wie eine Frau aufschrie. »Was machen Sie mit dem Mädchen?«
Der Mann knallte die Wagentür zu. Jasmin schob ihr kleines, schreckerstarrtes Gesicht in die Höhe des Seitenfensters, und die Frau schrie etwas zu dem Mann, was Jasmin nicht hören konnte. Sie versuchte die Tür zu öffnen, aber sie ging nicht auf. Jasmin begann wieder zu schreien, so laut sie konnte.
Dann stieg der Mann ins Auto und sagte mit einem Grinsen im Gesicht. »Die Frau hat mir geglaubt, dass du ein ganz ungezogenes Mädchen bist.«
Er liess den Motor an und fuhr los. Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Mann den Renault in einer Garage parkte.
Als er Jasmin aus dem Wagen zerrte, fing sie wieder laut an zu schreien.
»Hier hört dich niemand, du kannst schreien, soviel du willst, kleines Mädchen«, sagte der Mann, während er sie ins Haus hineinzerrte.
Als sie drinnen waren, machte der Mann die Tür hinter sich zu. Das leise Klicken des Schlosses jagte Jasmin einen Schauer über den Rücken.
»Du fürchtest dich, nicht wahr?«, sagte der Mann.
Jasmin nickte.
Der Mann ging ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Angestrengt und voller Aufmerksamkeit blickte er nach draussen. Er wollte sich vergewissern, dass niemand das Kindergeschrei gehört hatte.
»Du brauchst keine Angst zu haben.« Der Mann lächelte. »Du bist mir schon einmal aufgefallen. Du gehst öfters einkaufen?«
Jasmin nickte mechanisch. Sie hatte grosse Mühe, den Mann zu verstehen. Er sprach so komisch.
»Ich habe mir gleich gedacht«, fuhr der Mann fort, »was für ein hübsches kleines Mädchen, das wäre ideal!«
»Ideal für was?«, fragte Jasmin voller Panik.
»Du bist ein schönes Geschenk für einen guten Bekannten.«
Jasmin wurde klar, dass sie in der Falle sass. Sie hatte riesengrosse Angst und sah sich panisch um. Vielleicht könnte ich ja aus dem Fenster springen, überlegte sie.
Der Mann griff in eine Schublade und holte ein Päckchen heraus, das in rosa Papier eingewickelt und mit einer pinkfarbenen Schleife zugebunden war.
»Ich habe ein kleines Geschenk für dich. Bevor ich dich weggeben muss, wollen wir zusammen noch ein wenig Spass haben.«
»Ich will kein Geschenk«, krächzte Jasmin. »Ich will nach Hause.« Sie hatte so grosse Angst, dass ihr beinahe die Worte im Hals stecken blieben.
»Unsinn«, sagte der Mann. »Bist du nicht gespannt, was in dem Päckchen ist? Rate mal.«
Jasmin wusste nicht, was sich darin befinden könnte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. »Wenn Sie mich gehen lassen, verspreche ich Ihnen, dass ich niemandem etwas davon sagen werde. Bitte lassen Sie mich nach Hause gehen!«, flehte Jasmin.
Der Mann lachte heiser auf. Dann wurde er wieder ernst. »Öffne das Päckchen!«, befahl er.
Jessica lief der Schweiss von der Stirn, das Atmen bereitete ihr grosse Mühe. Weshalb kann ich mich jetzt plötzlich wieder daran erinnern? Und wieso erkenne ich die Möbelstücke im Wohnzimmer erst jetzt, wo sie anders dastehen?
Wem gehören diese Möbel unten im Wohnzimmer? Hat sie Mr. Finch jemandem abgekauft? Vielleicht diesem Mann? Dem Mann aus der Schweiz, bei dem ich eingesperrt war? Kannten sich die beiden? Und zu welchem Zweck ist heute Nacht jemand bei mir eingebrochen und hat die Möbel umgestellt?
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