Sie setzte sich an den Küchentisch und inhalierte gierig den Tabak.
Was hatte das eben zu bedeuten? Gute Nacht Prinzessin! Jessica hasste es, wenn jemand sie so nannte. Michael hatte einmal Prinzessin zu ihr gesagt, woraufhin sie gleich ausgerastet war.
Und warum überkommt mich bloss immer dieses beängstigende Gefühl, wenn ich Mr. Finch sehe? Warum habe ich das Bedürfnis, vor ihm wegzulaufen?
Jessica stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin. Es war still im Haus, nur das Brummen des Kühlschranks war zu hören.
Sie schenkte sich ein weiteres Glas Whisky ein und die Müdigkeit überkam sie. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und verfiel in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen – ihre Gedanken arbeiteten nur noch träge.
Das Gespräch, das sie mit Mr. Finch geführt hatte, spukte in ihrem Kopf herum. Jetzt im Halbschlaf gab ihr alles, was der alte Mann gesagt hatte, viel weniger zu bedenken als vor einer halben Stunde. Sie war zu müde, um sich darüber zu ärgern.
Dennoch versuchte sie sich über den Zweck seiner Anspielungen, zum Beispiel, dass er die Schweiz immer erwähnte, oder sie nach ihrer Herkunft ausgefragt hatte, ein Bild zu machen, aber gerade, als es ihr schien, eine brauchbare Lösung gefunden zu haben, übermannte sie der Schlaf wirklich.
Jessica schreckte aus ihrer unbequemen Stellung auf, als ein Motor aufheulte. Sie blickte erstaunt um sich. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Gähnend erhob sie sich, ging ans Fenster und sah, wie der Mercedes auf dem schmalen Weg ins Tal raste.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Was hat Mr. Finch in seinem Haus so lange noch gemacht? Wahrscheinlich hat er den ganzen Brotzopf verzehrt, dick mit Honig und Marmelade bestrichen!, dachte sie kopfschüttelnd und ging nach oben.
Im Badezimmer liess sie sich noch schnell ein Bad ein. Während sie in der Wanne lag, dachte sie an ihr gemütliches Haus in Calgary und fragte sich, was ihr Mann und ihre Kinder wohl gerade machten. Plötzlich wurde ihr bewusst, in welch seltsamer Situation sie sich befand, in diesem Haus, in der verrosteten Badewanne zu liegen. Dieser Ort war schrecklich und so anders als ihr zu Hause. Die Landschaft war zwar traumhaft und idyllisch, aber was hatte sie davon, wenn sie von dem Vermieter ständig belästigt wurde? Sie kam zu dem Schluss, dass es eigentlich nicht allzu viel bringen würde, noch länger hier oben in den Bergen zu versauern.
Ich werde morgen meine Sachen packen und von hier verschwinden!
Doch sie war nicht sicher, ob sie wirklich daran glauben sollte.
Sie war ziemlich nahe dran, sich endlich an das zu erinnern, was vor vierunddreissig Jahren geschehen war. Die Lösung schien zum Greifen nah.
Nachdem sie aus der Wanne gestiegen war, wischte sie das Kondenswasser vom Spiegel und musterte sich eingehend. Wenn die dunklen Augenringe nicht wären, dachte sie, dann würde ich nicht mal so schlecht aussehen. Ich wollte mich hier oben doch erholen, etwas für meine Fitness und meine Gesundheit tun. Stattdessen verschwende ich Zeit mit diesem alten Mann, trinke und rauche wieder, und sehe von Tag zu Tag müder aus. Aber ich werde noch nicht aufgeben. Ich bleibe noch ein bis zwei Tage. Es kann nur noch besser werden.
Nach dem Bad putzte sie sich noch die Zähne wieder einmal richtig gründlich und benutzte anschliessend Zahnseide und Zahnhölzer.
Dann lachte sie in den Spiegel und sagte: »Alles wird gut.«
Nachdem sie den Schlafanzug angezogen hatte, trat sie ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus, wo gleich oberhalb der dunklen Baumwipfel die Sterne am Himmel blinkten.
Und doch gelang es Jessica nicht, das hartnäckige Gefühl abzuschütteln, dass hinter dieser malerischen Kulisse eine andere dunklere Wirklichkeit lauerte – ein grosses Geheimnis.
Aber Jessica hatte keine Ahnung, wo sie nach Hinweisen darauf suchen sollte.
Etwas jedoch war ihr klar.
Dieser Abend gehörte zu den Tiefpunkten ihres Lebens.
Am nächsten Morgen blieb Jessica ziemlich lange im Bett liegen. Draussen war es windig und ziemlich dunkel – richtig ungemütlich. Der Wind war stark genug, um Teile des Hauses knarren und ächzen zu lassen.
Jessica fühlte eine schwere Mattigkeit, die es ihr beinahe unmöglich machte, aufzustehen. Am liebsten hätte sie den Kopf unter das Kissen gesteckt und weitergeschlafen. Alles tat ihr weh. Bei der Vorstellung, dass sie jetzt krank werden könnte, geriet sie in Panik. Wenn es einen schlechteren Zeitpunkt dafür gab, dann heute. Sie hatte sich für den heutigen Tag viel vorgenommen.
Als sie mitten in der Nacht von einem Wadenkrampf attackiert wurde und danach eine halbe Stunde lang nicht mehr einschlafen konnte, erinnerte sie sich daran, am Waldrand eine Blockhütte gesehen zu haben. Und diese Hütte wollte sie heute aufsuchen.
Sie war sich zwar nicht sicher, ob die Blockhütte Mr. Finch gehörte, aber schliesslich befand sie sich auf seinem Grundstück.
Falls Veronika tatsächlich ein und dieselbe Puppe war, die sie vor vierunddreissig Jahren in der Schweiz verloren hatte, musste es hier oben noch mehr Anhaltspunkte geben.
Und falls Mr. Finch etwas mit dem Verschwinden ihrer Puppe zu tun hatte, so musste sie es herausfinden.
Als sie an den Tag dachte, an dem sie ohne Veronika nach Hause kam, schossen ihr gleich Tränen in die Augen. Ihre Eltern hatten ihr damals gesagt, dass sie keine neue Puppe mehr bekommen würde, sie hätte eben besser auf sie aufpassen sollen. Jessica wollte damals an den Ort zurück, an dem sie Veronika verloren hatte. Aber sie hatte sich nicht mehr dorthin getraut.
Jessica stockte der Atem.
Diese Episode war ihr, gerade eben, ganz unvermittelt in Erinnerung gerufen worden.
Wohin zurück?
Wo hatte ich Veronika verloren?
Nur verzerrte Bilder spukten vor ihrem geistigen Auge herum. An mehr konnte sie sich im Moment beim besten Willen nicht erinnern.
Dafür war sie jetzt vollkommen wach. Sie stellte sich fast zwanzig Minuten unter die lauwarme Dusche, bevor sie sich anzog und hinunterging, um sich einen Kaffee zu machen.
Das Telefon klingelte, als sie die Küche betrat. Es war Michael, der sich trotz Rush Hour in der Praxis, kurz Zeit nahm, um seine Frau anzurufen. Er wollte wissen, wie es ihr geht und was sie vorhatte.
Jessica erzählte ihm, dass sie es hier oben in den Bergen sehr geniesse, viele Spaziergänge mache und stundenlang an ihrem Buch schreibe. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, aber fast unmittelbar, nachdem sie es gesagt hatte, bereute sie es, gelogen zu haben.
Trotzdem fühlte sie sich jetzt wieder etwas besser. Sie wusste, dass sie jederzeit nach Hause fahren konnte. Schliesslich hing sie hier nicht fest.
Sie ging in die Küche und bereitete sich ein Frühstück zu. Dabei versuchte sie, nicht an den schmatzenden alten Mann zu denken. Sie bemühte sich die Bilder, wie Mr. Finch die Sahnenusstörtchen verdrückt hatte, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Aber was sie mit Bestimmtheit nie mehr essen konnte, war ein Brotzopf.
Nachdem sie den Frühstückstisch abgeräumt hatte, schaltete sie die Waschmaschine ein, wischte Staub und saugte das Wohnzimmer.
Zufrieden mit sich, endlich wieder einmal etwas getan zu haben, sei es auch nur ein wenig Hausarbeit, nahm sie die warme Jacke vom Haken, zog ihre Stiefel an und verliess das Haus.
In der Zwischenzeit hatte sich der Wind schon lange gelegt und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft war für diese Jahreszeit immer noch mild.
Der Abstieg war beschwerlich. Sie folgte einem schmalen Fussweg, der durch die Fichten des Waldes hindurchführte. Nur langsam gelangte Jessica vorwärts. Plötzlich wurde ihr auf beunruhigende Art bewusst, wie abgelegen das Haus, das sie für einen Monat gemietet hatte, tatsächlich lag. Der nächste Nachbar – mal abgesehen von Mr. Finch – war mehrere Kilometer entfernt und die Umgebung war dicht bewaldet. Die Ruhe geradezu gespenstisch.
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