Ich freue mich riesig auf Deinen nächsten Brief.
Mit herzlichem Gruss
Dein Harry
Jessicas Gesicht verzog sich wieder vor Ekel, denn diese Briefe liessen keinen Zweifel offen, dass Mr. Finch und die anderen Männer Kinderschänder waren. Sie schob das Papier zurück in den Umschlag und durchstöberte die restlichen Briefe. Dann fand sie tatsächlich noch vier Umschläge, die wiederum eine andere Handschrift aufwiesen, allerdings kamen diese Briefe wieder aus Kanada. Diese Briefe waren genau so fürchterlich und pervers, wie die Post von Greg und Harry, und sie trugen die Unterschrift »Vince«. Und dieser Vince hatte Fotos von zwei verschiedenen Mädchen beigelegt. Eines von ihnen war acht, das andere zehn Jahre alt.
Offensichtlich hatten die Männer eine Art Club gegründet. Aber das hier war nicht der Club der toten Dichter, sondern »der Club der lebenden Pädophilen.«
Jessicas Körper spannte sich – draussen vor dem Haus hörte sie wieder ein Auto über den Kiesweg rollen. Sie legte den Brief zurück auf den Tisch und ging in die Küche. Durchs Fenster beobachtete sie, wie Mr. Finch aus dem Mercedes kletterte.
Jessica erschrak.
Mr. Finch trug einen schwarzen Mantel, einen schwarzen Hut und hatte einen schwarzen Wollschal um den Hals geschlungen. Schwarze Handschuhe bedeckten seine von Altersflecken gespickten Hände.
Bei dem Anblick lief es ihr kalt über den Rücken. Jessica sah, wie er den Garten durchquerte und in seinem Haus verschwand. Sie bekam es wieder mit der Angst zu tun und fragte sich erneut, was er dort trieb. Wozu diese Aufmachung mit dem schwarzen Hut und Mantel? Stammten diese beiden Teile aus dem Holzschrank, die sie in der Scheune entdeckt hatte?
Zur Beruhigung machte sie sich einen weiteren Drink, rauchte eine Zigarette und überlegte krampfhaft, was sie als Nächstes tun würde.
Ich werde morgen nach Beweisen suchen, und wenn ich etwas gefunden habe, werde ich sofort meine Sachen packen und von hier verschwinden. In Calgary werde ich die Polizei aufsuchen und ihnen die Briefe und die Fotos übergeben.
Jessica zuckte zusammen, als sie Mr. Finch wieder zurückkommen sah. Er murmelte aufgeregt vor sich hin, während er über den Kiesweg zu seinem Auto lief. Dann ging er um den Wagen herum, stieg ein und knallte die Autotür zu. Er legte seinen Sicherheitsgurt an und fuhr los.
Jessica atmete auf, als sie sah, wie er wieder ins Tal hinunterfuhr. Immerhin hatte er nicht bei ihr geklingelt! Sie hätte ihm auch nie und nimmer aufgemacht! Wenn sie jetzt daran dachte, dass sie mit einem Pädophilen zusammen Kaffee getrunken hatte, wurde ihr gleich wieder übel.
Wer waren diese Männer? Greg, Harry und Vince? Wie könnte man herausfinden, wer sie sind, wo sie wohnen, und ob sie überhaupt noch lebten? War Mr. Finch der Einzige, der noch lebte? Gab es noch mehr Männer in diesem Club, die Fotos ausgetauscht hatten? Existierte dieser Club überhaupt noch? War er noch aktiv? Machten die Männer immer noch Jagd auf kleine Mädchen und Knaben? Jessica hatte noch tausend Fragen.
Nach dem Abendessen, das aus einem Erdnussbuttersandwich und einer Tüte Kartoffelchips bestand, ging Jessica früh zu Bett. Sie wollte für ihr morgiges Vorhaben ausgeschlafen sein.
Die Nacht war ungewöhnlich warm, dunkle Gewitterwolken hingen über den Bergen. Nach Mitternacht begann es leise zu grollen, dann aber wurde es wieder ruhig.
Jessicas Schlaf war leicht und unruhig. Plötzlich fuhr sie hoch, setzte sich im Bett auf und rieb sich verschlafen die Augen. Sie nahm an, das heraufziehende Gewitter habe sie geweckt.
Gähnend schaute sie auf die Leuchtziffern ihres digitalen Weckers auf dem Nachttisch: Es war zehn nach zwei Uhr morgens. Jessica bückte sich, um die zu Boden gefallene Decke aufzuheben und erstarrte mitten in der Bewegung. Erschreckt lauschte sie.
Sie hörte dumpfe Geräusche, konnte aber weder sagen, was es war, noch woher sie kamen. Ihr Puls beschleunigte sich. War jemand im Haus? Dann grollte der Donner, ein fahler Blitz zuckte über den Himmel und erhellte das Schlafzimmer schwach.
Es ist das Gewitter, das mich nervös macht, dachte sie und wollte sich wieder hinlegen. Da hörte sie es wieder.
Diesmal klang es wie Schritte, die durch das Haus gingen.
Jessica war plötzlich hellwach. Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und tappte zur Tür, die zum Korridor führte. Sie hatte schon die Hand auf der Klinke, als sie ein lautes Husten vernahm, das definitiv aus dem Hausinneren heraufdröhnte.
Ihr Herz klopfte, sie spürte es bis in die Schläfen hinauf. Sie neigte sich vor und presste das Ohr gegen die Tür. Sie horchte, aber alles blieb still.
Jessica beruhigte sich ein wenig. Sie redete sich selbst ein, dass das Husten von der Strasse gekommen sei. Sie öffnete die Tür ganz vorsichtig und ging hinaus auf den Korridor.
Moment mal, dachte sie. Wer sollte mitten in der Nacht auf der Strasse herumhusten? Ich bin ganz alleine in den Bergen. Oder treibt sich Mr. Finch da draussen herum?
Sekundenlang war sie vor Schrecken wie gelähmt, und erst als sie hörte, dass jemand quer durch das Wohnzimmer ging, schrie sie leise auf, schlich zurück ins Schlafzimmer und verschloss lautlos die Tür. Sie stand wie angewurzelt im Dunklen und horchte gespannt. Als Nächstes waren wieder Schritte zu hören.
Dann ein lautes Krachen, als ob jemand gegen ein Möbelstück gedonnert wäre. Ihr blieb fast das Herz stehen. Da war definitiv jemand im Haus. Direkt unter ihr.
Jessica griff nach dem Baseballschläger, den sie im Supermarkt gekauft hatte. Keuchend vor Angst und Aufregung stand sie da. Sie zitterte am ganzen Körper. Warum nur hatte sie die Pistole im Arbeitszimmer in die Schreibtischschublade gelegt? Sie traute sich jetzt nicht, das Schlafzimmer zu verlassen, um die Waffe zu holen.
Plötzlich wurde es still.
Ein paar Minuten später hörte sie, wie ein Motor ansprang und das sich entfernende Geräusch. Sie wusste jetzt mit Sicherheit, dass sie nicht geträumt hatte. Sie wusste, sie musste etwas unternehmen, aber sie stand da wie eingefroren und konnte sich nicht rühren. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie spürte, wie ihr der Schweiss ausbrach.
Ein schwerer Donnerschlag erschütterte die Luft, und in der nächsten Minute öffnete sich der Himmel und der Regen prasselte herunter. Immer wieder zuckten Blitze auf und schufen eine gespenstische Atmosphäre.
Jessica stolperte zum Fenster, riss es auf und beugte sich vor. Sie spürte nicht, dass ihr Haar klatschnass wurde, während sie auf den Kiesweg hinunterspähte. Sie konnte vom Schlafzimmerfenster aus nicht den ganzen Vorplatz überblicken. Wieder ergriff die Angst Besitz von ihr, wieder überkam sie das Zittern. Was sollte sie nur tun?
Jetzt wurde ihr klar, dass es eine unsagbar dämliche Entscheidung gewesen war, noch eine weitere Nacht in diesem Haus zu verbringen.
Sie brachte es nicht über sich, zur Tür hinaus in den dunklen Korridor zu gehen, hinunter über die Treppe, in die Küche, in das Wohnzimmer, wo vielleicht etwas Schreckliches auf sie wartete.
War Mr. Finch da unten? Oder Greg? Oder Harry? Oder Vince? Alle zusammen?
Sie blieb, wo sie war – und wartete.
Minuten vergingen, bis sie es schliesslich nicht mehr aushielt, die Schlafzimmertür öffnete und vorsichtig in den Flur hinaustrat. Besser der Gefahr offen ins Auge sehen, sagte sie sich, als in Ungewissheit zu schweben. Der Korridor war finster, aber von unten drang ein Lichtschein durchs Fenster. Sie schaute über das Treppengeländer. Dann stieg sie zögernd die knarrende Treppe hinunter.
Unten angekommen drückte sie den Lichtschalter.
Sie fuhr vor Schreck zusammen.
Auf dem Boden lag etwas. Noch bevor sie wusste, was es war, fing ihr Puls an zu rasen. Jessica bückte sich und hob ein kleines Taschentuch aus Seide auf, das auf dem Bodendielen lag. Es hatte Initialen eingestickt und musste ziemlich teuer gewesen sein. Sie runzelte die Stirn und betrachtete die Buchstaben JM.
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