Der Barkeeper lachte lauthals und sprach weiter, erzählte irgendetwas über Affen, blaue Bären und Hirsutismus, aber Jessica hörte seine Worte gar nicht richtig und deren Sinn verstand sie erst recht nicht. Sie fühlte sich zum Umfallen müde. Hin und wieder verschwamm ihr schon der Raum vor den Augen.
Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus einen Typen, der am anderen Ende der Theke auf seinem Hocker sass und ständig zu ihr herüberglotzte.
Ihre Augen blieben dann an diesem Mann hängen, weil er ihr bekannt vorkam.
Der Mann mochte ungefähr vierzig Jahre alt sein. Er hatte dunkle Haare mit weissen Schläfen. Eine kahle Stelle auf seinem Kopf glänzte. Es machte den Anschein, als ob seine Augenbrauen den Verlust seiner Haare wettmachen wollten. Sie wuchsen buschig und dicht über seinen wasserblauen Augen.
Er trug einen hellblauen Pullover. Und er sah aus wie Mr. Finch!
Jessica wandte ihren Blick ab und schaute stattdessen in den Spiegel hinter der Theke, vielleicht um herauszufinden, ob sie genauso schockiert aussah, wie sie sich fühlte.
Alles erschien ihr surreal.
Der Barkeeper schwafelte jetzt etwas von Puritas und Sombreros, während er die bereits schon saubere Theke immer und immer wieder mit einem Lappen abwischte. Die gelbhaarige Bardame behauchte Cognacgläser, die sie anschliessend mit einem Geschirrtuch polierte, während der Finchklon sie immer noch anstarrte.
Am liebsten hätte sie geschrien. Stattdessen griff sie nervös nach einer Papierserviette und begann das Zellophan in dünne Streifen zu zerreissen. Erst als ihr die Bardame einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, hörte sie damit auf und schob die Papierfetzen von sich.
Plötzlich zuckte Jessica zusammen. Der Finchklon hatte der Bardame etwas zugerufen.
Die gleiche Stimme wie Mr. Finch! Ich glaube, ich werde langsam verrückt!
Noch mehr Gäste trafen ein. Ein grosser Teil von ihnen verschwand in einem Nebenraum, der ziemlich geräumig sein musste, denn er schluckte eine grosse Anzahl Menschen.
Geistesabwesend und bewegungslos blieb Jessica auf ihrem Hocker sitzen. Sie dachte an das Gespräch mit Michael, fragte sich erneut, weshalb der Vermieter zu so später Stunde an die Scheibe gehämmert und ihr diese faustdicke Lüge aufgetischt hatte. Erst als an das Durchreichefenster hinter der Theke geklopft wurde, tauchte sie aus ihren Gedanken wieder auf.
Die Bardame schob das Fenster hoch, holte ein Tablett, das mit zwei vollen Tellern und einer Brotschale beladen war, heraus, und ging damit zu einem Tisch in der Ecke, der sich zum Winkel hinter der Tür befand. Obwohl Jessica überhaupt nicht hungrig war, versuchte sie einen Blick auf das Essen zu erhaschen und drehte den Kopf.
Plötzlich fragte sie sich, was sie hier überhaupt noch machte? Das Telefongespräch war doch schon längst erledigt!
Sie stürzte das restliche Bier hinunter und knallte das Glas auf die Theke. Dann fiel ihr auf, dass der Hocker, auf dem der Typ im hellblauen Pullover gesessen hatte, leer war. Ihr Blick durchflog die Bar. Der Finchklon war verschwunden.
Sie sprang vom Barhocker, griff in die Handtasche, nahm ohne abzuzählen ein paar zerknitterte Geldscheine aus dem Geldbeutel, knallte sie auf die Theke, bahnte sich dann rücksichtslos ihren Weg durch die Menge und verliess mit schnellen Schritten die Bar.
Die Tür klappte automatisch hinter ihr zu.
Draussen fiel ihr ein, dass sie das Bier doppelt bezahlt hatte. Ein sehr teures Telefonat!
Der Nebel, der schon bei ihrer Ankunft kurz vor Mitternacht unangenehm und feucht gewesen war, verdichtete sich noch mehr. Jessica konnte kaum noch die andere Strassenseite erkennen. Sie überlegte krampfhaft, wo sie ihren Range Rover abgestellt hatte. Dann erinnerte sie sich, dass sie sich die Konditorei gemerkt hatte und ging den gleichen Weg zurück.
Während sie im Eiltempo durch die nebligen Strassen marschierte, überlegte sie, ob ihr der Finchklon wohl irgendwo auflauerte.
Es gibt keinen Finchklon, sagte sie sich schliesslich. Ich habe mir alles nur eingebildet. Wahrscheinlich vernebelt das Wetter auch meinen Verstand.
Trotz dieser Einsicht rannte sie die letzten paar Meter zum Wagen, schloss auf, setzte sich ans Steuer und verriegelte den Wagen von innen.
Sie liess den Motor an, trat aufs Gas und fuhr mit kreischenden Reifen davon.
Nachdem sie Banff verlassen hatte und die kurvige Gebirgsstrasse hinauffuhr, überkam sie das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die heftige Übelkeit an. Sie versuchte den Range Rover an den Strassenrand zu lenken, aber dort war einfach nicht genügend Platz zum Anhalten.
Jessica zwang sich, an etwas anderes zu denken, als an die Flasche Rotwein, die Pasta mit Tomatensauce, das Bier und an die Erdnüsse mit Bakterien. Aber es funktionierte nicht.
Jetzt konnte sie wirklich nicht mehr länger warten. Sie riss einen Vollstopp, kletterte aus dem Wagen und erbrach den gesamten Mageninhalt auf den glitzernden Asphalt.
Ein Motorrad donnerte an ihr vorbei, während sie leichenblass und mit dicken Schweisstropfen auf der Stirn, auf der dunklen Strasse stand und sich fragte, wie überhaupt alles so weit kommen konnte.
Alles wegen diesem blöden Telefonanruf! Alles wegen Mr. Finch!
Sie wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiss von der Stirn, stieg wieder in den Wagen, und fuhr weiter.
Eine Viertelstunde später erreichte sie den Hügel und lenkte ihren Range Rover langsam über den Kiesweg. Sie zog den Zündschlüssel heraus und liess sich seufzend gegen die Rücklehne sinken. Soll ich wieder nach Hause fahren?, überlegte sie.
Nein! Sie hatte nicht vor aufzugeben. Sie wollte das hier durchziehen und sie war wild entschlossen, dieses Buch zu schreiben, um herauszufinden, was damals passiert war.
Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war, blieb sie noch eine Weile stehen und atmete tief durch. Die Luft war kalt und frisch.
Doch als sie die dunkle Strasse hinunterblickte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten.
Plötzlich zuckte sie zusammen, weil sie dachte, jemand wäre hier draussen.
Der Vermieter!
Die Person, die sie im Auto verfolgt hatte!
Der anonyme Anrufer von gestern!
Vielleicht der Motorradfahrer, der an ihr vorbeigedonnert war, während sie das wilde Durcheinander in ihrem Magen mitten auf die Strasse entleert hatte!
Abrupt drehte sie sich um, stürmte ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte sie hastig.
Das Wohnzimmer wirkte noch düsterer und unfreundlicher, als sie es vor dem Barbesuch in Erinnerung hatte. Jessica blickte zum Hirsch auf und tippte grüssend mit dem Finger gegen die Schläfe, dann liess sie sich auf die Couch sinken und blieb wie benommen sitzen.
Ihr fiel plötzlich das Handy wieder ein und sie fing an, es zu suchen. Im Schlafzimmer wurde sie fündig. Es lag auf der Bettdecke und war ausgeschaltet.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihr Handy auf das Bett gelegt zu haben. Und ausserdem schaltete sie es nie aus. Schon darum nicht, weil sich ihr Spatzenhirn den vierstelligen Code nicht merken konnte.
Vielleicht fällt mir die Zahlenkombination über Nacht wieder ein, dachte sie und legte das Handy auf die Kommode.
Mit viel Überwindung raffte sie sich auf, die Zähne zu putzen und sich abzuschminken. Sie schlüpfte in ihren Schlafanzug und kroch ins Bett. Das Laken und die Daunendecke fühlten sich kalt an. Fröstelnd rollte sie sich zusammen.
»Verfroren ist hier noch keiner«, hörte sie die Stimme von Mr. Finch sagen. Sie schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch. Die Zahlen zeigten fünf vor zwei.
Morgen früh wird alles wieder im Lot sein, dachte sie.
Oder auch nicht. Sie schloss die Augen und schlief sofort ein.
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