1 ...8 9 10 12 13 14 ...28 »Wo ist der Eremit?«, erkundigte sich Jessica.
»Der kommt noch«, antwortete der alte Mann und zeigte auf das nächste Bild. »Kennen Sie das?«
Jessica zuckte die Achseln, als sie auf die nackten Kinder blickte, die gemeinsam ein Gebüsch durch die Gegend schleppten.
»Das ist der Früchtekranz.« Mr. Finch lachte. »Es ist schwierig, in dieser Gegend Modelle zu bekommen. Da muss ich eben meiner Fantasie freien Lauf lassen.« Er fuhr sich mit der Hand durch das spärlich verbliebene weisse Haar und betrachtete dabei sein Werk voller Ehrfurcht.
Jessica räusperte sich und warf einen skeptischen Blick auf das Trinkglas. Sie war zwar versucht, etwas Alkoholisches zu trinken, um ihre Nerven zu beruhigen, hatte aber den dringenden Verdacht, dass mit diesem Getränk etwas nicht in Ordnung war. Ausserdem fühlte sie sich schon benommen genug, von dem unbestimmten Geruch nach Farben, Terpentin und abgestandenem Tabak. Also liess sie es bleiben und stellte das Glas wieder auf den Tisch.
»Trinken Sie«, sagte Mr. Finch. »Das ist eine Spezialität aus der Schweiz – ein echter Appenzellerschnaps.«
Bei dem Wort Schweiz blieb Jessicas Herz augenblicklich stehen und fing erst nach einer gefühlten Minute wieder an zu schlagen.
»Waren Sie schon einmal in der Schweiz?«, fragte Mr. Finch, unbeirrt von Jessicas Herzstillstand.
»Noch nie«, antwortete Jessica zögernd. »Und Sie?«
»Vor langer Zeit. Ein schönes Land. Klein aber fein. Genau wie Sie.«
Jessica blickte ihn mit einem gefrorenen Lächeln an.
Als er einen Schritt auf sie zukam, zuckte sie zusammen und bewegte sich rückwärts in Richtung Ausgang. »Ich sollte nun wirklich gehen Mr. Finch«, sagte sie nervös. »Ich erwarte einen Anruf von meiner Familie.«
Mr. Finchs helle Augen quollen vor. »Aber Sie haben doch noch gar nichts getrunken. Und ausserdem wollte ich Ihnen noch ein ganz besonderes Gemälde zeigen.«
Danke, ich habe genug gesehen, dachte Jessica, während sie weiter zur Tür strebte. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Aber ...« Mr. Finch brach ab. Jessica hatte das Atelier bereits verlassen.
Mit schnellen Schritten lief Jessica durch den Garten, eilte zu ihrem Range Rover, nahm die Einkaufstüten aus dem Kofferraum, schleppte sie zur Veranda und stellte sie dort keuchend ab. Ängstlich um sich blickend, öffnete sie die Haustür, schnappte sich die Einkaufstüten, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab.
Völlig ausser Atem ging sie zum Fenster, schlug den vergilbten Vorhang zurück und hielt Ausschau nach Mr. Finch.
Kurz darauf entdeckte sie den alten Mann. Sein Gesicht war mürrisch und unzufrieden. Er schien sehr nervös zu sein und nagte an seiner Unterlippe. Unschlüssig schaute er sich im Hof um, zuckte dann mit den Achseln und ging zu seinem Wagen. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und schaute direkt zum Fenster.
Jessica erbleichte und wich zurück. Sie liess den Vorhang los und rührte sich nicht mehr. Er hat mich gesehen, dachte sie. Ich weiss, dass er mich gesehen hat.
Nun hatte es Mr. Finch eilig. Er stieg ein und fuhr sofort los.
Nachdem der Mercedes hinter der ersten Kurve verschwunden war, merkte Jessica, dass sie eigentlich immer noch müde war und legte sich auf die Couch. Schon nach kurzer Zeit schlief sie einfach ein.
Als sie aufwachte, war es bereits dunkel. Sie rieb sich verschlafen die Augen und schaute durch die Glastür im Wohnzimmer. Die Dunkelheit und die Stille draussen waren geradezu unheimlich. Aber genau das hatte sie ja gewollt. Friedliche Stille in der Natur, Zeit um ein wenig zur Ruhe zu kommen.
Wenn diese Ruhe doch nicht ständig durch den Vermieter unterbrochen würde! Bestimmt hätte sie sich bis jetzt schon einigermassen erholt. Sie wäre spazieren gegangen, hätte schon ein paar Seiten von ihrem Buch geschrieben. Aber auch wenn er nicht anwesend war, musste sie ja jeden Moment damit rechnen, dass er wieder an ihrer Tür klingelte, sie vor dem Haus abpasste oder einen völlig sinnlosen Anruf tätigte. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Sie bekam in seiner Gegenwart jedes Mal eine Gänsehaut.
Sie erschrak, als ihr Magen plötzlich ein lautes Knurren von sich gab. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Sie hatte heute überhaupt noch nichts Sinnvolles getan.
Was für ein komplett vergeudeter Tag!, dachte sie. Ich muss mich jetzt endlich zusammenreissen! Ich kann nicht den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen oder liegen und darauf warten, bis sich meine Probleme von alleine lösen.
Jessica ging in die Küche, um Wasser für die Pasta aufzusetzen und eine Dose Tomatensauce aufzuwärmen. Während auf der einen Herdplatte das Nudelwasser sprudelte und auf der anderen die Sauce auf kleiner Flamme kochte, entkorkte sie eine Flasche Rotwein und schenkte das Glas viel zu voll ein. Vielleicht würde es nicht schaden, sich ein wenig zu betrinken. Nur dieses eine Mal. Sie trank das halbe Glas in einem Zug, füllte es wieder bis zum Rand und nahm noch einen Schluck. Eine angenehme Benommenheit stellte sich ein.
Als die Tomatensauce heiss war, goss sie diese über die Pasta, streute eine ganze Packung geriebenen Parmesankäse darüber und trug den Teller ins Esszimmer. Dort knipste sie einen Kronleuchter an, der den Raum in ein kaltes weisses Licht tauchte.
Jessica fühlte sich ganz komisch, so alleine an dem langen polierten Holztisch zu sitzen. Sie war es nicht gewohnt, alleine zu essen. Sie vermisste ihre Familie.
Kurz entschlossen nahm sie den Teller und das Glas und ging damit ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzte, die Beine auf den Couchtisch legte und den Teller auf dem Schoss abstellte.
Der Wein schmeckte wirklich gut. Sie hatte das Gefühl, noch nie so guten Wein getrunken zu haben.
»Zum Wohl«, sagte sie zum Hirsch, als sie das zweite Glas Wein an ihre Lippen setzte.
Jetzt war sie überzeugt davon, dass Mr. Finch diesen Hirsch getötet hatte. Wenn der alte Mann Gänse gestopft und lebend gerupft hatte, schreckte er auch nicht davor zurück, einen Hirsch zu ermorden.
Dann fiel ihr noch etwas ein. Er hatte die Schweiz erwähnt und sogar ein für die Schweiz typisches Getränk in seinem Sortiment. War das ein Zufall? Oder wusste er darüber Bescheid, dass sie die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens in der Schweiz verbracht hatte?
Das Geräusch eines Kofferraumdeckels, der hart zugeschlagen wurde, riss sie aus ihrer Grübelei. Sie stellte ihr Glas mit einem Klirren auf den Tisch, erhob sich von der Couch, ging in die Küche und schaute durch das Küchenfenster auf den Vorplatz, wo sie Mr. Finch sah, der mit einer grossen Tasche beladen in seinem Haus verschwand.
»Das glaube ich jetzt aber nicht!«, rief sie fassungslos. »Was macht der denn jetzt schon wieder hier?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach zehn.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und kratzte die restliche Pasta von ihrem Teller. Für ein paar Minuten gelang es ihr, nicht mehr an den alten Mann zu denken, bis sie plötzlich das Gefühl hatte, dass sich vor ihrem Fenster etwas bewegte.
Sie starrte durch die Glastür, konnte aber nichts anderes erkennen als das Wohnzimmer, einen Hirschkopf und eine Frau, die mit weit aufgesperrten Augen auf der Couch sass.
Sie löschte das Licht und beobachtete, wie eine schattenhafte Gestalt ans Fenster trat und sich vorsichtig umblickte.
Jessica duckte sich hinter dem Vorhang und sah, wie die Gestalt durch die Glasscheibe ins Wohnzimmer hineinspähte.
Plötzlich hämmerte eine Faust gegen die Scheibe.
Jessica wollte schnell den Vorhang ziehen, da erkannte sie Mr. Finch und der schrie: »Mrs. Greene! Sind Sie noch wach?«
Ich bringe ihn um, dachte Jessica.
»Mrs. Greene!«, schrie der Vermieter erneut. »Ein Telefonanruf für Sie!«
Während Jessica mit ihrer rechten Hand immer noch den Vorhang umklammerte, überlegte sie, ob das überhaupt möglich war, dass jemand bei ihm anrufen und sie verlangen würde.
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