Mr. Finch blieb hartnäckig: »Ihre Tochter ist am Apparat!«
Meine Tochter? Das glaubt er ja selber nicht. Nach einem langen Zögern rief Jessica: »Sagen Sie meiner Tochter, sie möge mich doch auf dem Handy anrufen!«
»Ihr Handy funktioniert auch nicht! Wahrscheinlich ist es abgestellt!«, schrie Mr. Finch. »Kommen Sie doch mit und fragen Sie Ihre Tochter selbst!«
Sie überlegte hin und her. Konnte das stimmen? War bei ihr zu Hause etwas passiert? Brauchte ihre Tochter ganz dringend ihre Hilfe?
Nein, bestimmt nicht. Er will mich doch nur zu sich locken, wie ein Kinderschänder. Rasch ging sie zum Telefonapparat und hob den Hörer ab. Nichts. Das Telefon war tatsächlich tot. Dann suchte sie ihr Handy. Es war weder in ihrer Handtasche noch in ihrer Manteltasche. Sie überlegte krampfhaft, wann sie das Handy zuletzt gesehen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern.
»Kommen Sie doch mit!«, schrie Mr. Finch und klopfte erneut heftig gegen die Glasscheibe.
Kommen Sie doch mit, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte ein Déjà-vu. Dieser Satz kam ihr plötzlich so bekannt vor. Wo hatte sie das schon einmal gehört?
»Gut, wie Sie wollen!«, rief Mr. Finch beleidigt. »Dann eben nicht!«
Einen Moment später hörte Jessica, wie eine Autotür zugeschlagen wurde, ein Motor aufheulte und sekundenlang die absolute Stille überdeckte.
Das Motorengeräusch verklang in der Ferne und Jessica lief aufgeregt im Wohnzimmer auf und ab.
Was soll ich jetzt tun? In Jessicas Kopf fing es an zu spuken. Sie hatte Angst den Verstand zu verlieren.
Sie fing an ihr Handy zu suchen, jedoch ohne Erfolg. Es war spurlos verschwunden.
Dafür war sie auf die Zigaretten gestossen, die sie am Morgen gekauft hatte. Mit zitternden Händen öffnete sie eine Packung, holte Streichhölzer, die auf dem Kamin lagen, und zündete sich eine Zigarette an. Sie zog so heftig daran, dass es ihr dabei schwindlig wurde und sie sich hinsetzen musste. Wahrscheinlich lag es aber auch daran, dass ihr Körper mit Nikotinpflastern übersät war.
Sie schaute an die Wand über dem Kamin und fing wieder an, sich mit dem Hirsch zu unterhalten. Irgendwie hatte sie der Hirsch auf eine Idee gebracht. Nämlich, dass Mr. Finch ihr das Handy aus der Tasche genommen hatte, als sie diese im Atelier unbewusst auf einen Stuhl gestellt hatte.
Jessica konnte nicht länger herumsitzen. Sie musste wissen, ob mit ihrer Familie alles in Ordnung war. Sie kam zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab, dies herauszufinden: Sie brauchte ein Münztelefon. Dazu musste sie nach Banff fahren. Dort hatte bestimmt irgendein Restaurant oder eine Bar geöffnet, wo sie einen Anruf tätigen konnte.
Sie huschte zur Garderobe, zwängte ihre Füsse in die Stiefel, zog ihre Jacke an und schaute in den Spiegel, um ihre Frisur zu kontrollieren.
Ich sehe ja schrecklich aus, stellte sie fest, während sie hastig am Reissverschluss ihres Schminktäschchens herumzerrte. Schliesslich schaffte sie es, Lippenstift und Puderdose herauszuangeln. Geübt zog sie die Lippen nach, stäubte sich ein wenig Puder ins Gesicht und setzte einen Hauch Rouge auf die Wangen. Dann stürmte sie zur Tür hinaus.
Draussen war es stockfinster. Ihr Range Rover war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Das zwitschernde Geräusch des elektronischen Wagenöffners verriet aber den Aufenthaltsort ihres Wagens.
Rasch kletterte sie ins Auto, legte mit hektischen Bewegungen den Gang ein und fuhr los.
Was konnte passiert sein? Jessica überlegte hin und her. Weshalb hatte Alice versucht, sie anzurufen? War jemand krank? Alle schlimmen Gedanken, die Eltern haben können, schossen ihr durch den Kopf. Hatte sich Alice ein Zungenpiercing stechen lassen und war dabei zu verbluten?
Oder hatte Matthew seinen Lehrer verprügelt? Schliesslich hatte er solche Drohungen schon öfters ausgestossen. Ihr nächster Gedanke war noch abgefahrener. Vielleicht war Michael mit der hübschen Sprechstundenhilfe Nancy durchgebrannt und die Kinder waren ganz alleine in dem grossen Haus!
Unsinn! Bestimmt war es etwas Banales, wie die Frage: »Mom, wo hast du meine Designerjeans verstaut? Wieso hat Daddy meine Handyrechnung nicht bezahlt?«
Jessica schaute in den Rückspiegel. Ein Auto folgte ihr mit eingeschalteten Scheinwerfern. Sie fuhr etwas langsamer, in der Hoffnung, dass der Wagen sie überholen würde.
Das tat er aber nicht. Stattdessen wurde er auch langsamer.
Ist es der Mercedes von Mr. Finch?, überlegte sie. Aber weshalb sollte der Vermieter mich mitten in der Nacht verfolgen?
Erneut blickte sie in den Rückspiegel, aber sie konnte nichts sehen – die Scheinwerfer blendeten sie, so dass es unmöglich war, etwas zu erkennen.
Nach einer Weile wurde sie nervös. Sie setzte den Blinker, lenkte den Range Rover an den Strassenrand und hielt an. Aber die Rechnung ging nicht auf. Statt dass der Wagen an ihr vorbeifuhr, hielt er nur knapp hinter ihr.
Sie knallte die Zentralverriegelung herunter und beobachtete das Auto hinter sich durch den Rückspiegel.
Ihr Hände fingen an zu zittern. Sie war doch nicht verrückt! Sie wurde verfolgt!
Sobald er aussteigt, fahre ich los!, überlegte sie.
Sie zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Doch dann fehlten ihr doch die Nerven, noch länger zu warten. Sie trat aufs Gas und schlitterte mit quietschenden Reifen vom Strassenrand weg. Bis zur nächsten Kurve hielt Jessica das Gaspedal voll durchgedrückt. Mit verbissenem Gesicht umklammerte sie das Lenkrad mit beiden Händen und hoffte, dass kein Dickhornschaf die Strasse überqueren würde.
Plötzlich hörte sie hinter sich wieder das Dröhnen eines Motors. Sie warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. »Was soll das?«, schrie Jessica wütend. »Gibt es in diesem Kaff eigentlich nur Irre?«
Noch schneller konnte sie nicht fahren. Sie hatte jetzt schon kaum mehr die Kontrolle über ihren Wagen.
Und dann, sie konnte es nicht glauben, wurde sie überholt. Der Wagen schoss mit blitzschnell kleiner werdenden Rücklichtern, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, in die Dunkelheit davon.
Jessicas Herz klopfte. Was war das denn?, wunderte sie sich. Eine Rakete?
Es dauerte eine Weile, bis sie sich von diesem Schock erholt hatte und nicht mehr alle paar Sekunden in den Rückspiegel blickte.
In der Zwischenzeit fuhr sie etwas langsamer, aber immer noch viel zu schnell. Erst als sie die Stadt erreichte, drosselte sie das Tempo, während sie nach einem Restaurant oder einer Bar Ausschau hielt.
Endlich! Auf der anderen Strassenseite leuchtete ihr die Neonschrift einer Bar entgegen. Zahlreiche Wagen parkten am Strassenrand. Unter Laternen standen ein paar komische Gestalten und unterhielten sich.
Ein paar Parkplätze waren gleich neben dem Eingang angelegt. Diese waren aber alle besetzt. Sie fuhr an der Bar vorbei, wendete ein paar Strassen weiter vorne, fuhr in die Parklücke, die sie schon zuvor entdeckt hatte, und stellte den Motor ab.
Eine dicke Nebeldecke hing über der Stadt. Es nieselte und war kalt. Jessica fror trotz des warmen Pullovers und der gefütterten Jacke. Sie kam an einem Schuhgeschäft, einem Delikatessenladen und einer Konditorei vorbei. Dann war die Bar in Sicht, auf die sie mit grossen Schritten zustrebte.
Über der Tür hatte sich ursprünglich ein Bär aus Neonröhren befunden, der blau ausgeleuchtet werden konnte. Anscheinend funktionierte die Lichtleitung nicht richtig, denn nur noch die Pfoten glühten blau. Der Körper lag im Dunkeln. Sie überlegte einen Moment, ob sie wirklich in diese Bar hineingehen wollte. Sie wusste, sie hatte keine andere Wahl. Nur so konnte sie herausfinden, weshalb ihre Tochter sie so verzweifelt gesucht hatte.
Durch eine Glastür gelangte sie in einen schmalen Gang. Dann führten drei Stufen zu einer vorhangbespannten Tür hinauf. Jessica spähte durch einen Spalt des Vorhangs in den langgestreckten Raum. Die Bar war brechend voll, die Musik ohrenbetäubend und es roch nach abgestandener Luft. Alles lachte und schrie durcheinander. Es machte den Anschein, als hätte sich ganz Banff versammelt, denn es waren alle Altersgruppen vertreten.
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