„Besser nicht, wenn sie etwas daraus lernen soll.“, meinte Angela.
Der Pfarrer hängte das Geschirrtuch auf und sagte: „Danke. Das sehe ich nämlich ganz genau so.“
Plötzlich stand Annegret Reinkensmeier in der Tür. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Pfarrer ging sie nach oben, um ihre Tochter abzuholen.
Sie begleiteten Nicoles Mutter nach oben, wo alle übrigen noch fröhlich um den Tisch versammelt waren – sich aber schneller zum Gehen wandten, als der Pfarrer 'Danke und auf Wiedersehen' sagen konnte. Nun waren nur noch Iris und Angela übrig, die sich in aller Ruhe warm einpackten, damit sie auf den zwei Kilometern zwischen Holzhausen und Nordhemmern nicht auskühlten. Sie halfen außerdem, alle Möbel wieder ordentlich hinzustellen und das Licht zu löschen, bevor sie das Gemeindehaus verließen.
„Übrigens, Iris“, sagte der Pfarrer, „Ich habe vor längerer Zeit unfreiwillig ein Gespräch zwischen dir und Lydia belauscht. Hättest du denn immer noch Lust, den Jugendkreis zu leiten? Ich meine, du müsstest das ja nicht alleine machen, könntest dir ja auch die Angela mit ins Boot holen, aber die Lydia ist nächstes Jahr um diese Zeit kurz vorm Abitur und könnte da sicher Entlastung gebrauchen.“
Iris fühlte sich geschmeichelt und antwortete: „Also, ich hätte schon noch Lust, aber Lydia meinte, sie müsste das dann mit mir zusammen vorbereiten und dazu hätte sie keine Zeit.“
„Na, dafür gibt’s ja 'ne Lösung.“, erwiderte der Pfarrer. „Ihr könntet euch ja in der Vorbereitung mit Lydia abwechseln, und falls ihr wirklich Unterstützung braucht oder Lydia unbedingt will, dass noch einer über euer Konzept drüber guckt, dann könnt ihr gerne auf mich zurück greifen.“
„Also, ich hätte auch Lust dazu.“, mischte Angela sich ein.
„Ja.“, sagte Iris, „Wenn wir beide das zusammen machen würden, das fände ich auch super, aber ich glaube, Lydia passt das überhaupt nicht.“
„Also es geht hier ja nicht um Lydias Wünsche oder ihre zarte, verwundbare Seele, sondern um den Fortbestand der Jugendarbeit in unserer Gemeinde. Da hab' ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich regle das mit Lydia und melde mich dann wieder bei euch. Einverstanden?“
Die Mädchen nickten begeistert, verabschiedeten sich und radelten beschwingt nach Hause.
VORHANG – ZWEITER AUFZUG – DU BIST DRAN!
birgitdiestarke, Samstag, 11. Februar 2017, 00:08
33 Jahre später …
… Angela, die immer noch allen alles recht machen wollte, hatte ein treffen alles ehemaligen Jugendmitarbeiter des Kirchenkreises organisiert. 20 von ihnen hatten zugesagt, und Angela versuchte nun, für alle eine Unterkunft bei Familien im Ort zu finden.
Pastor Becker hatte zwischenzeitlich den Abschied genommen, also den endgültigen Abschied. Er war vor drei Jahren bei der Einweihung des neuen Bischofs in der Kreisstadt an einer Oblate erstickt. Jede Hilfe war zu spät gewesen.
Nach zielstrebigem Bemühen hatte Angela fast alle umgebracht, bis auf Iris und Lydia. Die beiden wollten auf keinen Fall bei ihren eigenen Familien wohnen. Schließlich lud Angela sie zu sich nach Hause ein, wohl oder übel, denn weder die griesgrämige, dick gewordene und ungepflegt wirkende Iris noch die arrogante, reich verheiratete und belehrende Lydia gehörten zu ihrem direkten Freundeskreis, aber es ging nicht anders und dann die Sache mit der christlichen Nächstenliebe … Angela war fest entschlossen, ihr Bestes zu leisten.
Iris kam zuerst an. Angela begrüßte sie lächelnd und fragte sie, ob sie eine angenehme Reise gehabt hätte. „Was ist schon angenehm an einer Zugreise?“, bekam sie zur Antwort, „aber was weißt du schon darüber, verwöhntes Papa-Prinzesschen, du fährst ja nur Auuuuto!“ Angela biss sich auf die Lippen, damit keine feindseligen Worte herausfielen.
Lydias Ankunft war einer Diva würdig, ein richtiger Auftritt, mit rollenden Augen über den desolaten Zustand der Einfahrt vor Angelas Elternhaus und einem mitleidigen Blick auf Angelas Kleidung, so passe!
Angela machte gute Miene zu bösem Spiel und kochte Kaffee für sie alle, und zwar nach guter alter Methode in der Kaffeekanne aufgekocht, dick und schwarz und mit Charakter.
Iris stürzte ihre Portion unter lautem Schlürfen und ekligem Aufstoßen in kürzester Zeit hinunter, während Lydia über die Stärke, den verbrannten Geruch und Geschmack und überhaupt alles quengelte. Angela beherrschte sich mühsam und wartete die wenigen Sekunden, die das Zyankali brauchte, um die beiden Nervensägen zum Schweigen zu bringen. Aaaaaah, diese wohltuende Stille!
Milchig weiß quält sich die Sonne durch die dunstige Suppe des Novembernebels. Wie gern hätte Andrea sich heute morgen im Bett noch einmal umgedreht, sich gegen elf zuerst in die Badewanne und dann mit Milchkaffee und Schnittchen aufs Sofa gelümmelt, gelesen und gelegentlich aus dem Fenster gelinst. Statt dessen hat sie um sieben der Wecker aus den Träumen gerissen, ein Gefühl, als sei es mitten in der Nacht, schließlich war es noch dunkel draußen und die Dusche war nicht richtig heiß geworden. Ein schneller Kaffee, ein bisschen Müsli, die Autoscheiben freikratzen und dann frierend ins Kreishaus fahren, wo schon abgestandener Filterkaffee, lauwarmer Tee mit Schlieren, staubiges Fabrikgebäck und Remouladenschnittchen auf sie warten. Und erst die Kollegen, die lieben Brüder und Schwestern und die naiven Ehrenamtlichen, die heute antreten, um sich zwischen Pest und Cholera zu entscheiden.
Es ist Wintersynode, eine Legislaturperiode beendet, der alte Sup geht in den Ruhestand und für die Nachfolge haben sich nicht viele beworben. Warum auch? Wer reißt sich schon um die Verantwortung, für ein paar Kröten mehr auf dem Konto? Verprassen kann man die ohnehin nicht, denn während dessen hat man keine Zeit dazu und hinterher ist man so verbraucht, dass alles für Gesundheitsleistungen draufgeht. Aus Andreas Sicht sind es immer die Seltsamen, die sich um ein solches Amt bewerben: die Machthungrigen, die Selbstaufopferer, die Geltungsbedürftigen oder, wenn es ein absoluter Glücksfall ist, die Genies, die das alles aus dem Ärmel schütteln können und einfach überredet worden sind. Aber in diesem Jahr gibt es kein Genie. Da ist nur Pest: Roland Sackheim, einfältig, aber vielfältig manipulierbar, ein gefundenes Fressen für die Strippenzieher im Hintergrund, einer der den Kirchenkreis garantiert vor die Wand fahren wird und diejenigen, die davon profitieren, können dies in aller Stille und ohne drohende Konsequenzen tun.
Und dann ist da Cholera: Detlev Sundermann, gestaltungswillig, eloquent, hartnäckig. Er ist nicht nur ambitionierter Gemeindepfarrer, sondern auch ein leistungsstarker Freizeitsportler und Rotarier.
Auf dem Weg zu einem Sitzplatz fühlt Andrea sich, als würde sie sich durch Schlamm bewegen, durch eine Masse unförmiger, nachlässig gekleideter, unfrisierter Menschen. Dabei ist sie selbst keine Styling-Queen und auch kein Bodyshaping-Vorbild. Aber für einen wohlwollenden Blick fehlt ihr heute Morgen die manische Energie, die sie in ihren Beruf getrieben hat. Sie nimmt an einem der langen Tische Platz, die in ihrer Anordnung an die Speisesäle englischer Eliteschulen erinnern oder an die große Halle in Hogwarts aus den Harry-Potter-Filmen.
Singen, Beten, Tagesordnung abarbeiten, Mittagsimbiss, Smalltalk, Mundwinkel einfrieren, damit das Lächeln nicht verrutscht, durchhalten, durchhalten, durchhalten.
Dann kommt es zur Wahl. Andrea kann nicht wählen. Sie will sich weder am Ruin des Kirchenkreises schuldig machen, noch an seiner Verwandlung in eine totalitäre Vorhölle. Sie könnte schließlich hinterher kaum behaupten, sie habe das alles nicht gewusst. Sie weiß mehr, als ihr lieb ist. Sie enthält sich.
Auszählung. Spannung. Resignation. Es ist ja egal, ob nun Pest oder Cholera obsiegt. Dann das Ergebnis: Unentschieden. Ein Stöhnen geht durch die Reihen. Noch mindestens eine weitere Stunde Lebenszeitverschwendung. Eine halbe Stunde Pause bis zum zweiten Wahlgang. Geschäftiges Treiben bei den einen, gähnende Langeweile bei den anderen. Zigaretten vor der Tür.Toilettengänge. Brennende Mägen vom fünften lauwarmem Kaffee und zu viel Weißbrot mit Remoulade und Essig-Gürkchen. Und dann dieser markerschütternde Schrei. Andrea denkt augenblicklich an ein durchgebrochenes Magengeschwür. Dann sieht sie den Menschenauflauf vor der Herrentoilette. Alle reden aufgeregt durcheinander. Schließlich kommt ihr Henning entgegen. Leichenblass ist er, ihre Blicke treffen sich. „Was ist los?“, Flüstert sie.
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