„Guck mal, jetzt flüstert er ihr schon wieder was zu.“, wisperte Cornelia Petra ins Ohr, während sie Angela und den Pfarrer, die direkt über Eck saßen, nicht aus den Augen ließ.
„Angela hat schon voll die rote Rübe.“, flüsterte Petra zurück. „Pass auf, gleich lässt sie vor Aufregung die Gabel fallen.“
„Was da wohl gerade unterm Tisch passiert?“, mutmaßte Cornelia.
„So genau will ich das gar nicht wissen.“, entgegnete Petra.
„Aber ich.“, raunte Cornelia, ließ mit gespielter Ungeschicklichkeit ihre Gabel unter den Tisch fallen, um dann beim wieder Aufsammeln die Stellungen der einzelnen Körperteile unterhalb der Tischplatte zueinander mit einem kurzen, photographischen Blick zu erfassen. Sie musste ihr impulsives, hysterisches Kichern in einem vorgetäuschten Hustenanfall tarnen.
„Was ist los, Cornelia?“, rief der Pfarrer über den Tisch. „Wolltest du die Krümel, die vom Tisch des Herrn abfallen nicht umkommen lassen und hast dich daran verschluckt?“
Cornelia errötete und hustete zur Tarnung noch etwas weiter, bis sie schließlich behauptete: „Ich hab' mich beim Bücken nach meiner runter gefallenen Gabel an 'nem Stück Toastbrot verschluckt. Geht aber wieder.“
„Was war denn?“, raunte Petra, als sie und ihre Freundin das Rampenlicht der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden wieder verlassen hatten.
„Angelas Fußspitze ist nach außen gedreht und zeigt voll auf den Packer, und er streckt seine Füße auch immer weiter aus, mittlerweile berühren sie sich bestimmt.“
Ein Kichern unterbrach Cornelias Bericht, bevor sie fortfuhr: „Und Nicole und ihre beiden Verehrer haben alle drei die Beine so breit gemacht, dass ihre Knie kuscheln können. Also unterm Tisch läuft hier voll der Softporno: Oben Bibelkreis, unten Schulmädchenreport.“
„Das guck' ich mir auf keinen Fall an.“, entgegnete Petra. „Nachher muss ich noch Kotzen. Glaubst du, der Packer will Angela flach legen?“
„Bis jetzt konnte ich mir das nicht vorstellen, aber guck mal, wie er sie immer angrinst und voll labert.“
Iris kaute lustlos auf dem bei ihr Kopfschmerzen verursachenden Phosphat-Würstchen herum und schwankte zwischen dem Bedauern, irgendwie ausgeschlossen zu sein und dem Gefühl einer eklatanten Überlegenheit; empfand sie doch das Niveau der hier stattfindenden Gespräche als unterirdisch. Zum Glück tauschte dann aber Birgit zur Kuchenrunde den Platz mit Jörg, weil sie etwas mit Imke besprechen wollte, und Iris hatte endlich einen adäquaten Gesprächspartner.
Als Pastor Becker in die Runde fragte: „Und wer hilft mir jetzt beim Abwasch?“, sagte Angela prompt: „Ich.“, ansonsten herrschte Schweigen im Walde beziehungsweise geflissentliches Ignorieren, denn alle waren gerade in spannende Gespräche vertieft, bis auf Cornelia und Petra, die aber auf keinen Fall dem erotischen Abenteuer in der Spülküche im Weg stehen wollten.
Angela war ziemlich aufgeregt, als sie ein Tablett voller Tassen die Treppe herunter trug, befürchtete sie doch, ungeschickt zu stolpern und alles fallen zu lassen. Der Pfarrer trug Teller und Besteck und damit zwar mehr Gewicht, aber ein deutlich geringeres Risiko, dass die Ladung ins Rutschen geriet. Es ging aber alles gut, und Angela ließ, glücklich unten angekommen, das Spülwasser einlaufen. Die Küche eignete sich in keinster Weise, um pornographische Phantasien darin auszuleben: Sie war schmal, die Arbeitsplatten so klapprig, dass sie unter dem Gewicht eines halbwegs ausgewachsenen Menschen zusammengekracht wären, das Licht kalt und das Fenster lag zur Straße, war großflächig und ohne Gardinen.
Trotzdem fand Angela es spannend, ungestört reden zu können.
Der Pfarrer trocknete so schnell ab, dass Angela mit dem Spülen kaum hinterher kam. Sie wollte gerade das Gespräch auf den anstehenden Kindergottesdienst lenken, da lehnte plötzlich Lydia lasziv im Türrahmen. Ihre glänzenden, brünetten, zu einem akkuraten Pagenkopf geschnittenen Haare umrahmten ihr ebenmäßiges, ernstes Gesicht. Sie hätte durchaus attraktiv wirken können, hätte sie nicht jeden derartigen Impuls durch ihr säuerlich tantiges Auftreten bereits im Keim erstickt. Immerhin war es ihr gelungen, einen jungen Mann an sich zu binden, den sie aus der Schule kannte, aber die männlichen Teilnehmer des Jugendkreises hegten eine unverhohlene Abneigung gegen sie. Angela war sich nicht sicher, was der Pfarrer von ihr hielt, sie selbst hätte Lydia in diesem Moment am liebsten zur Hölle gewünscht.
„Soll ich jemanden ablösen?“, fragte Lydia gedehnt.
„Also mich nicht.“, sagte Pastor Becker, „Ich hab' ja eben nicht so hart gearbeitet wie ihr. Aber wie sieht's mit dir aus Angela, kannst du noch?“
„Kein Problem.“
„Ich könnte dich aber ablösen.“, insistierte Lydia. „Du bist hier ja schließlich nicht die Spülfrau.“
„Ach lass mich mal.“, entgegnete Angela. „Das Wasser ist so schön warm.“
Pfarrer Becker grinste, und jeder normale Mensch hätte deutlich gespürt, dass er hier überflüssig war. Aber Lydia war nicht normal. Lydia Meyer beanspruchte für sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller wichtigen Personen, weil sie sich selbst für wahnsinnig wichtig hielt. Also blieb sie stehen wie eine von multiresistenten Keimen verursachte Infektion und fragte den Pfarrer: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass das, was wir da eben gegessen haben, eine ernährungsphysiologische und ökologische Katastrophe war?“
„Nein. Warum denn?“, erwiderte Pastor Becker mit fester Stimme und starrem Gesichtsausdruck.
„Na ja, in den Heißwürstchen sind hauptsächlich Fett, durchgedrehte Schlachtabfälle und chemische Zusatzstoffe, die krank machen. Das Toastbrot hat kaum Ballaststoffe und besteht nur aus leeren Kalorien und im Ketchup stecken Unmengen Zucker.“
„Ach“, sagte er, „meinst du, wir sollten die durchgedrehten Schlachtabfälle erst in psychiatrische Behandlung geben, damit sie nicht mehr so durchgedreht sind, wenn wir sie verwursten?“
„Sie wissen ganz genau, wie ich das meine.“, antwortete Lydia spitz, mit einem nicht sehr gelungenen Versuch, durch ein angedeutetes Lachen mit ihrem Gesprächspartner zu flirten.
„Nee, weiß ich nicht.“, antwortete der. „Ich weiß nur, dass du beim nächsten Mal gern ökologisch biodynamisch kochen darfst, wenn dir das so am Herzen liegt. Ich würde dann aber trotzdem vorsichtshalber Kartoffelsalat und Würstchen mitbringen, damit mir die Leute, die sich nicht überwinden können, deine alternative Suppe zu löffeln, nicht vom Stängel fallen. Sonst noch was?“
Angela konnte sich nur schwer ein Grinsen verkneifen, und sie bedauerte regelrecht, dass sie mit dem Abwasch fast durch waren, versprach es doch, ziemlich interessant zu werden. Lydia war sichtlich erbost und offenbar auch verletzt.
„Ich kann Ihnen gerne mal ein Buch über gesunde Ernährung leihen, dann könnten Sie sich mal auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bringen.“
„Das brauche ich nicht. Ich esse, was mir schmeckt, und wenn ich dadurch nur siebzig statt neunzig Jahre alt werde, ist das auch in Ordnung.“
„Aber das mit der Ökologie kann Ihnen als Pfarrer ja wohl kaum egal sein. Schließlich geht es um die Schöpfung.“
„Ja.“, erwiderte er. „Und als Teil dieser Schöpfung weigere ich mich, mir mit pseudo-fundiertem Halbwissen angereicherte Fachvorträge anhören zu müssen, die mich ermüden, weil ich das längst alles weiß. Ob die Kleidung, die du am Leib trägst, ökologisch einwandfrei ist, wage ich ebenso zu bezweifeln wie den wirtschaftlichen Sprit-Verbrauch eures Autos. Und jetzt würde ich hier gern zu Ende abtrocknen und zwar in Ruhe.“
Lydias trotzige Augen füllten sich mit Tränen und sie rannte wortlos die Treppe hinauf. Pastor Becker stöhnte und fragte Angela: „Was meinst du, muss ich da jetzt hinterher und sie trösten?“
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