Wieder stürmten die beiden Mädchen in unterschiedlichen Richtungen los. Diesmal war Susi die Erste, die mit einem Eichenblatt zurückkam. „Acht Zacken!“, verkündete sie triumphierend. Da kam AnnaLena hinter einem gewaltigen Buchenstamm hervor. Sie versteckte etwas hinter ihrem Rücken. Ihr grinsender Gesichtsausdruck verriet, sie hatte etwas Außergewöhnliches gefunden. Stolz präsentierte sie ein gewaltiges Farnblatt.
„Das habe ich auch gesehen, aber dies ist ja kein Blatt-, beschwerte sich Susi. Das ist ja nicht von einem Baum.“
„Nicht nur Bäume haben Blätter Susi. Da muss ich AnnaLena den Punkt geben.“ Er teilte das Farnblatt in zwei Teile und gab diese an jede zurück. „Fällt Euch etwas auf?“
Beide Kinder drehten sofort das Blatt herum. „Iiiiiiii“ kreischte Susi und ließ das Blatt fallen. „Läuse!“ Sie rieb ihre Hände an den Hosenbeinen ab.
„Läuse würden sich bewegen. Diese auch?“
Mit spitzen Fingern inspizierten die beiden ihr Blattteil. AnnaLena schüttelte ihren Kopf. Vorsichtig bückte sich Susi, um ihr Blatt aufzuheben, das sie wiederholt hingeworfen hatte. Skeptisch blickte sie auf die vielen kleinen Punkte, jederzeit bereit, das Blatt erneut fallen zu lassen, sollte sich einer dieser Punkte bewegen. So sehr sich Mikael auch bemühte, er konnte den beiden nicht auf die Sprünge helfen. Als er vom Samen sprach, da wollten die Mädchen es zuerst nicht glauben. Dann erinnerte sich AnnaLena an den Biologieunterricht, wo sie erfahren hatte, dass aus Samen neue Pflanzen entstanden.
„Machen die dies alle so?, wollte Susi wissen.
Mikael schüttelte seinen Kopf. „Nein, jede hat ihre eigene Methode.“
Schermbeck
Schermbeck ist eine uralte Siedlung. Sie ist über 1200 Jahre alt. Für diejenigen, die wir gewohnt sind, Zahlen in Geldbeträgen zu denken, ist das nicht viel. Stellt man aber die Zahl in den historischen Kontext, dann kommt dem Alter eine ganz andere Bedeutung zu. Schermbeck entstand, als Karl der Große in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Und Karl der Große war der Erste, der die politischen Strukturen in Nordeuropa schaffte. Vorher gab es hier nämlich Nichts. Nichts außer Natur. Schermbeck als Siedlung hat über die Dauer der Zeit nur in ihren Bruchstücken existiert. Das lag daran, dass sie als Grenzsiedung erreichtet wurde und immer eine Grenzsiedlung blieb. Hier teilte man Rheinland und Westfalen ebenso voneinander, wie den Kölner, Klever und den Münsterschen Gebietsanspruch. Da diese Grenze sich fortwährend verschob, oszillierten auch die Bruchstücke von Schermbeck in diesen Gebieten. Erst im Zwanzigsten Jahrhundert und konkret durch die Kommunalreform in Nordrhein-Westfalen 1975 kam zusammen, was bislang nicht zusammenkommen konnte. Dieses Zusammenwachsen war so erfolgreich, dass sich nur noch die Alten in der Gemeinde daran erinnern können, dass die heutigen Ortsteile früher selbständige Bürgermeister hatten.
Lisa Krause legte den Schriftverkehr der Gemeinde ab. Sie trug ein obergenienfarbenes Kostüm, aus dem eine beige Bluse mit einer riesigen Rüsche hervorschaute. Dabei hatte sie stets ein Auge auf den Terminkalender. Wenn er pünktlich war, dann würde in einigen Minuten der Transportunternehmer Josef Blasshorst erscheinen. Frau Krause legte kontrollierend ihre Hände an die mit Festiger in Form gebrachte Frisur. Sie fragte sich, wie ein solcher Mensch überhaupt Unternehmer sein konnte. Er war immer zögerlich. Erst nach mehrmaligem Abwägen traf er eine Entscheidung. Sein Vater war früh an einem Herzinfarkt gestorben. Josef, der eigentlich auf ein angenehmes Leben auf Kosten seiner Eltern gehofft hatte, musste nun selbst in die Bresche springen, ohne eigentlich auf seine neue Tätigkeit vorbereitet zu sein. Da er seinen Vater nun nicht mehr fragen konnte, war der Bürgermeister mehr und mehr in diese Rolle geschlüpft. Bürgermeister Hansen war dies recht, konnte er so leichter die Transportprobleme der Gemeinde steuern. Transport bedeutete Transport von Menschen. Es waren Schüler, Unternehmungslustige oder Flughafennutzer, die er transportierte. Auch im Öffentlichen Nahverkehr war er tätig. Blasshorst hatte die Vaterrolle des Bürgermeisters akzeptiert und die bequeme Steuerung durch den ersten Mann in der Gemeinde Akzeptiert. Er nahm jedenfalls keinen Anstoß daran. Die Gemeinde Schermbeck war, was den Schülertransport betraf, sein größter Auftraggeber und wenn es nach Blasshorst ginge, dann könnte es so auch in Zukunft so bleiben. Schlagartig war er aus diesem bequemen Zustand herauskatapultiert worden.
Und richtig, pünktlich auf die Minute klopfte es an der Türe und auf ihr „Herein“ betrat Blasshorst das Vorzimmer des Bürgermeisters. Er trug einen dunklen Anzug, den er wohl vor zwanzig Jahren gekauft haben mochte. Die Krawatte war mit einem schlampigen Windsorknoten gebunden. Er hatte sich entschieden, den Gürtel seiner Hose unterhalb seines einladenden Bauches zu tragen. So entstand der Eindruck als übernehme der Gürtel neben seiner ursprünglichen Aufgabe, die Hose zu halten, noch die Bestimmung, den Bauch zu stützen. Die Hemdenknöpfe zeigten durch die Überdehnung des Stoffs, wie gewaltig die Wampe war, die Blasshorst vor sich hertrug.
„Bin ich zu spät?“, fragte er, obwohl er einige Minuten vor der Türe gewartet hatte, bevor er nach mehreren Blicken auf seine Uhr geklopft hatte. Sein Handrücken fuhr nervös über seine Stirn. Er wollte bei dem kommenden Gespräch vermeiden, dass Schweißperlen über seine Stirn liefen.
„Nein, aber der Bürgermeister erwartet Sie schon.“ Bei Lisa krause erweckte der hilflose Unternehmer Muttergefühle.
Blasshorst kontrollierte fahrig den Sitz seiner Krawatte, klopfte an die andere Türe des Raumes und wartete, bis er ein deutliches „Bitte!“ vernahm. Nachdem er die Türe geöffnet hatte, kam Hansen ihm schon entgegen und reichte ihm seine Hand. Hansen war ein großgewachsener Mann Ende Fünfzig. Er pflegte immer schwarze oder dunkelblaue Anzüge zu tragen. Obwohl er stets seine Krawatten wechselte, konnte keiner sagen, wann er die aktuelle zum letzten Male getragen hatte. Hansen blickte von oben auf die sich abzeichnende Hinterkopfglatze seines Gegenübers.
„Dies ist aber nett von dir, dass du für mich Zeit hast Johannes.“ Blasshorst senkte jovial seinen Kopf.
„Aber ich bin doch immer für dich da Josef.“
„Ich weiß“, antwortete Blasshorst. Es war seine Sache nicht, belanglose Begrüßungsgespräche zu führen. So kam er gleich zum Gegenstand was sein Herz bedrückte. „Es geht um die Verlängerung der Schülerbeförderung. Du hast mir doch geraten, den Vertrag vorzeitig zu kündigen. Und nun ...“
„Dies solltest du so nicht sagen“, unterbrach Hansen seinen Besucher. Er legte beruhigend seine Hand auf die Schultern des Besuchers. „Immerhin wolltest du doch mehr Geld von der Gemeinde haben. Oder?“
Blasshorst nickte. „Aber nun kommt da so ein Schreiben von der Verwaltung, dass...“
Hansen unterbrach ohne Hemmungen den Redeschwall seines Besuchers. Er hatte ein Gespür entwickelt, wie man einem emotionalen Besucher entwaffnen konnte.
„Darf ich dir einen Kaffee anbieten?“ Die Geste seines rechten Arms wies ihn an, sich hinzusetzen.
Ohne auf die Zustimmung seines Gegenübers zu warten, betätigte er die Gegensprechanlage und orderte zwei Tassen Kaffee. „Du trinkst doch noch Kaffee?“ Blasshorst schüttelte unwillig bejahend seinen Kopf. Er wollte gerade tief Luft holen, als Hansen ihn wieder unterbrach. Er hatte sein nonchalantes Lächeln aufgesetzt, zu dem er fähig war: „Entschuldigung, ich habe dich wohl unterbrochen. Was wolltest du sagen?“ Die einfallenden Sonnenstrahlen fielen auf seine Haare und machten so die sich abzeichnenden weißen Haare sichtbarer.
Der Tisch, an dem sich der Besucher setzte, bot mindestens für zehn Personen Platz. Er war so aufgestellt, dass seine Länge an den zahlreichen Fenstern ausgerichtet war. Dadurch boten sich zwei Möglichkeiten, die Hansen geschickt zu nutzen wusste. Der Sitzplatz des Bürgermeisters war immer an der Schmalseite, die seinem Schreibtisch am nächsten stand. Je nach dem, wie Hansen seine Besucher klassifizierte, schauten sie entweder durch die Fensterreihe. Das Rathaus der Gemeinde Schermbeck war am Mühlenteich errichtet worden. Nur das Zimmer des Bürgermeisters war auf den Mühlenteich ausgerichtet. In der zweiten Etage gelegen, ergab sich so ein phantastischer Blick auf den Mühlenteich und seine malerische Umgebung, die sich hinter dem Rathausgebäude erstreckte. Oder er ließ den Besucher auf die entgegengesetzte Wand des Bürgermeisterbüros schauen. Es war eine leere Wand. Kein Bild hing hier, um Atmosphäre zu schaffen. Nur die nackte, weiße Tapete konnte man hier wahrnehmen. Hansen richtete es immer so ein, dass ein ihm angenehmer Besucher, bei den Gesprächen mit ihm, den Blick auf den Mühlenteich richten konnte. Er selbst setzte sich so, dass er seinen Schreibtisch im Rücken hatte. Er wusste, dass dieser Ausblick auf den Teich beruhigend wirkte. Das Wort gefügig machen hätte er nie zugegeben. Erwartete er hingegen eine Auseinandersetzung, dann durfte der Kontrahent gegen die gegenüberliegende leere weiße Wand starren.
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