„Papi, Papi, ich habe da eine wichtige Sache.“
Christel schüttelte den Kopf, die sportlich geschnittenen brünetten Haare rutschten in ihre Stirn.
„Hallo, mein Schatz!“
Knoop nahm seine Frau in die Arme und beugte seinen Oberkörper zu ihr herunter. Seine Frau reichte ihm bis zur Brust.
„Bei solchen wichtigen Sachen ist es am besten, du übernimmst gleich die Kontrolle der Hausaufgaben mit. Ich habe noch genug anderes zu tun.“
Knoop setzte sich auf das Sofa, griff zu den Matheaufgaben, aber AnnaLena stand nun nicht mehr der Sinn nach Hausaufgaben. Zuerst musste sie erzählen, was heute so alles in der Schule geschehen war. Knoop hörte interessiert zu, stellte Fragen und bestärkte seine Tochter, wenn er ihr Verhalten für richtig hielt.
„“Und dann hat Petra-Marie behauptet, ich hätte gelogen. Dabei hat sie genau gewusst, dass ich den Bernie nicht gekratzt habe sondern die Laura. Papi, wenn man lügt, dann kommt man doch in das Kindergefängnis, nicht wahr?“
Knoop hatte in einem anderen Zusammenhang aus erzieherischen Gründen eine Kinderpolizei erfunden. Nun hatte AnnaLena dies wohl für ihre Problemlösung umgemodelt und ein Kindergefängnis erschaffen. Einen Moment war er sprachlos.
„Weißt du Schatz, im Moment ist das Kindergefängnis überfüllt, weil die Jungen und Mädchen so viel lügen. Aber wenn wir noch etwas warten, dann ...“ Knoop beendet bewusst den Satz nicht, weil er nicht wusste, wie er ihn beenden sollte. Aber seine Tochter bemerkte seine Notlage nicht.
„Dann stecken wir sie in das Kindergefängnis“, sagte AnnaLena mit dem Brustton tiefster Überzeugung. „Das hat sie verdient.“
„Ja, später. Aber nun ist erst einmal die Mathematik dran.“
AnnaLenas Welt war wieder im Gleichgewicht der Gerechtigkeit. Nun hatte sie Platz in ihrem Kopf für die Erklärungen, die ihr Vater brauchte, um ihr das mathematische Problem verständlich zu machen.
Schermbeck
Johannes Hansen kippte seinen Sessel in die Relaxstellung. Er kratzte seine kurzgeschnittenen Haare, die sich nur kranzförmig im hinteren Teil seines Kopfes befanden. Er suchte nach einer griffigen Formulierung für die Sitzung des Schulausschusse, die in einer halben Stunde beginnen würde. Er musste selbst über sich lachen, als er den Gedanken, der ihm gerade gekommen war, niederschrieb. Er räumte die Akten um, bis er den Ordner „Ganztagesschule“ in den Händen hielt und aufschlug. Die Gegensprechanlage summte. Hansen drückte den Bedienungsknopf. Obwohl ihn diese Störung gar nicht in den Kram passte, riss er sich zusammen und bediente sich einer freundlichen Stimme, weil er nicht wusste, ob jemand im Vorzimmer war, der ihn hörte.
„Was liegt an, Frau Krautscheit?“
„Entschuldigung Herr Bürgermeister. Ich habe am anderen Ende der Leitung den Herrn Baselitz. Er lässt sich nicht abweisen und will unbedingt mit Ihnen sprechen.“
Baselitz war Hansen bekannt. Baselitz besaß im Außenbereich der Gemeinde ein Grundstück. Er weigerte sich vehement gegen eine Abflussleitung, die die Gemeinde über den hinteren Teil seines Grundstücks legen wollte, ja musste. Dieser Leitungsweg hätte der Gemeinde Schermbeck gewaltige Kosten in fünfstelliger Höhe erspart. Hansen war sich sicher, dass die Gemeinde auf dem Rechtswege Erfolg haben würde, aber diese Möglichkeit war zeitaufwendig und könnte vielleicht zu Gunsten Baselitz ausgehen. Die Verhandlungen zogen sich schon des Längeren hin, ohne dass sich ein Erfolg abzeichnete. Vielleicht hat er doch ein Einsehen, dachte Hansen.
„Kann der nicht vorbeikommen?“ Die Stimme seiner Sekretärin riss ihn aus seinen Gedanken. Da Hansen nun wusste, dass außer Frau Krautscheit keiner zuhörte, ließ er seine schlechte Laune freien Lauf. „Mensch, dieser Querulant geht mir auf den Geist. Immer weiß er alles besser, nichts ist ihm gut genug.“
„Nein, er sagte, dass wäre in diesem Falle nicht angebracht.“ Gabriele Krautscheit ließ sich von der Stimmungsänderung ihres Chefs nicht beeindrucken. Hansen blickte auf seine Armbanduhr, seufzte: „Was macht man nicht alles für die Gemeinde.“ Und stimmte der Umschaltung auf sein Telefon zu. Sekunden später ertönte der melodische Klingelton der Rufumleitung. Hansen klappte den Schreibtischsessel in die Relaxstellung.
„Guten Tag Herr Baselitz! Ich habe im Moment wenig Zeit. Wir haben gleich Schulausschusssitzung. Aber wenn Sie es sich mit der Abwasserleitung anders überlegt haben, In einer Stunde wird die Sitzung beendet sein. Dann könnten wir uns hier treffen.“
„Hallo Herr Bürgermeister, Wegen dieser Angelegenheit rufe ich nicht an. Na ja, eigentlich schon. Ich habe da was Dringendes
– für Sie Dringenderes. Deshalb muss ich eilig mit Ihnen sprechen. Aber nicht am Telefon, nicht bei mir, nicht bei Ihnen, keine Kneipe. Leider bedarf die Sache keinen Aufschub.“
Hansen runzelte wenigstens die Stirn, wenn ihm etwas nicht passte. Er musste aber gestehen, dass ihn die gehörten Worte neugierig machten. „So geheimnisvoll?“ Seine Stimme klang freundlicher.
„Wenn ich sie informiert habe, dann werden Sie mir zustimmen, das dies der richtige Weg war und dann kann dies mit der Abwasserleitung in einem Aufwasch mitgeregelt werden.“
„Sie machen mich neugierig. Warten Sie ...“ Er erweckte den Eindruck, als müsse er in seinen Terminplaner schauen. Er zählte bis Zehn. „Ich habe morgen einen Termin beim Ziegelwerk Toccata. Wir könnten uns dann auf dem Waldheideweg treffen?“
Baselitz stimmte zu. Man einigte sich auf einen Termin am frühen Nachmittag. Hansen rieb verträumt sein Doppelkinn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein so konspiratives Treffen vereinbart hatte.
Duisburg Walsum
Mikael Knoop hatte seinen Dienst vorzeitig beendet. Er hatte die Nase voll von der eintönigen Schreibtischarbeit. Er hatte in letzter Zeit den Eindruck, als behandele man ihn als Mädchen für Kleinkram. Sicherlich, er hatte bei seinem Dienststellenleiter van Gelderen nicht die besten Karten. Dennoch wartete Knoop auf die Gelegenheit, einen wirklich richtigen Fall übertragen zu bekommen. Jetzt wo sein Widersacher Peter Sakalewski im Krankenhaus lag, müsste die Chance, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, eigentlich größer sein. Knoop war im Grunde kein missgünstiger Mensch, aber den Bandscheibenvorfall seines stellvertretenden Chefs empfand er doch klammheimlich als Strafe Gottes, für den fiesen Charakter Sakalewski. Aber noch immer bearbeitete er Todesfälle, die offensichtlich kein Fremdverschulden zeigten, aber dennoch untersucht und protokolliert werden mussten. Jeder in der Abteilung konnte eine solche Arbeit erledigen. Warum häuften sie sich nur bei ihm? So der Tod der Rentnerin von heute. Laut Papiere war sie 79 Jahre alt. Sehen konnte man die Frau nicht mehr, weil ihre Leiche sich verflüssigt hatte. Er fand die alte Frau somit im Bett und Fußboden des Schlafzimmers ausgebreitet vor. An der körperlichen Hülle waren aber keinerlei Verletzungen festzustellen. Haustür und Fenster waren von innen verschlossen, was ein Fremdverschulden ausschloss. Zu dem bestialischem Gestank kam also noch der Bürokram dazu. Schnell hatte Knoop in Erfahrung gebracht, dass keiner der Nachbarn im Haus und in den Nachbarhäusern Kontakt mit der alten Dame gepflegt hatte, sie offensichtlich unter Einsamkeit litt. Die Gerichtsmedizin hatte ein Herzversagen infolge von Unterernährung diagnostiziert. Die Pathologin wollte sich aber bei dem Zustand der Leiche im Moment nicht endgültig festlegen. Keiner hatte sich um das Wohl der Alten gekümmerte, Keiner sie zum regelmäßigen Essen und Trinken angehalten. So war sie seiner Vermutung nach eines Tages, der Todeszeitpunkt war nicht mehr genau bestimmbar, lag aber schon drei Wochen zurück, nicht mehr aufgestanden und war im Bett verstorben. Sicherlich eine menschliche und soziale Katastrophe, aber eine kriminologische Herausforderung war dies nicht. Auch der Sturz in den Brunnen, den Knoop zu bearbeiten hatte, war ein Unfall und der Sprung vor den Schnellzug war ein Selbstmord, weil keine anderen Hinweise zu ermitteln waren. Nur die Randerscheinungen waren alles andere als angenehm. Die Unfalleiche stank, wie die der alten Frau und der Selbstmord bedingte das Einsammeln von Leichenteilen. All dies waren keine Fälle, auf deren es zeitlich in irgend einer Form ankam. Was er heute nicht machte, dies wurde eben morgen erledigt. Kein Hahn krähte danach, wer wie die Angelegenheit zu Ende brachte. Auch in den Zeitungen waren, wenn überhaupt, diese Ereignisse nur fünf Zeilen wert. Es sei denn, durch so einen Selbstmord brach stundenlang der Fahrplan der Duisburger Verkehrsbetriebe zusammen. Dann wurde darüber berichtet. Nicht über die Polizeiarbeit, sondern über die Warteschlangen und den Unmut der Fahrgäste.
Читать дальше